Hirnstorno und Neuanfang

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rippchen Avatar

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Welche Vorstellung: Mit 16 Jahren fängt das Leben bei Null an, alle bisherigen Erfahrungen sind verloren, alles muss neu erfahren, neu gelernt werden. So jedenfalls ergeht es in Teri Terrys Buch „Gelöscht“ der Hauptakteurin Kyla. Sie wurde in einem Londoner Hospital, das mit seinen vergitterten Fenstern, hohen Zäunen und Wachtürmen dem Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses gleicht, „geslated“, will heißen: Alle Erinnerungen an ihr früheres Leben wurden gelöscht, stattdessen wurden ihre Emotionen maximiert: Ihre „Levo-Werte“ - im übertragenen Sinn der Blutdruck der Slater - hängen unmittelbar von ihren Gefühlen ab. Und Kylas Gefühle sind in erster Linie Angst, Trauer und Überforderung, als sie mit neuem Namen, einem minimalen Basiswissen und einigen Verhaltensregeln nach neun Monaten (entsprechend der pränatalen Entwicklung eines Babys!) aus dem Krankenhaus entlassen wird. Ihr Weg „von der stationären Behandlung in den externen Vollzug“ führt sie in ihre neue Familie: Neben einer etwas unterkühlt und distanziert wirkenden Mutter und einem freundlichen Vater wartet eine überglückliche, ebenfalls geslatete ältere Schwester anderer ethnischer Herkunft auf sie. Ebenfalls erwartet sie ein völlig unbekanntes Umfeld: städtische Menschenmassen und der Autoverkehr sind ihr ebenso unbekannt wie Kücheneinrichtung, feuchtes Gras und buntes Laub im neuen Zuhause. Obwohl sie sich dort langsam einlebt, plagen sie Albträume, die sie nicht zuordnen kann: Beängstigende Überbleibsel aus dem „alten Leben“, zu denen auch Zeichnungen mit verstörenden Motiven zählen!? Aber sie weiß: Dieser Neuanfang ist ihre „letzte Chance“.
Die Autorin, die ihre Hauptakteurin in der Ich-Form erzählen lässt, behandelt auf fiktionale Art das prekäre Thema Menschenversuche: Der Mensch als wissenschaftliche Versuchskaninchen.
Stellt sich die Frage: Welche schlimmen Erfahrungen tragen jene 20.000 geslateten Jugendlichen, zu denen auch Kyra und ihre Schwester Amy gehören, in sich? Warum ist eine Tilgung ihrer Erinnerung und ein anschließendes „Funktionieren“ so wichtig?
Was sich heute mit Genmanipulation bereits andeutet, scheint bei den Gehirnstornos in der Gesellschaft der Zukunft offensichtlich überhaupt keine Rolle mehr zu spielen: der moralische Aspekt. Steckt in diesem Fantasy-Stoff ein Fünkchen Zukunfts-Realität, könnten sich die schlimmsten Befürchtungen im Hinblick auf die Entwicklung der Spezies Mensch bewahrheiten.
Spannend-unterhaltsame Lektüre für alle Zukunfts-Junkies!