Die "ganz normalen Menschen" & der Nationalsozialismus
Noch ein Buch über die NS-Zeit? Ist über diese Zeit nicht längst schon alles gesagt und erzählt worden in den letzten 80 Jahren? Kann noch etwas Neues dazu gezeigt werden?
Ich gebe zu, ich habe gezögert, mich für dieses Buch zu entscheiden, denn ich war des Themas schon etwas müde, hatte schon dutzende, wenn nicht hunderte, Bücher dazu gelesen in meinem Leben... doch einige Empfehlungen haben den Ausschlag gegeben, es lesen zu wollen. Ich bin so froh darüber, es getan zu haben!
Ja, dieses Buch schafft es - nach all den bestehenden eindringlichen Werken zum Thema - etwas grundlegend Neues zu schaffen und damit die Menschen noch einmal anders als bisher zum Denken anzuregen. Es geht um eine schreckliche Zeit, doch die allseits bekannten Schrecken werden nur subtil angedeutet: ein Kalendereintrag hier, eine kleine Bemerkung da... und doch wissen wir alle, worum es geht, und das macht es noch beklemmender zu lesen.
Die fiktive deutsche Kleinstadt "Ginsterburg" wird im Roman zu drei Zeitpunkten beschrieben: ausführlich im Jahr 1935 und 1940 sowie knapp am Ende im Jahr 1945. Wir erleben die Stadt und das Zeitgeschehen durch die Augen ihrer Bewohner. Im Jahr 1935 gibt es einen Wanderzirkus mit altem Tiger, Motorradkünstler und Wahrsagerin... diese tauchen später nicht mehr auf, so etwas wird aus dem Zeitbild verschwunden sein. Es gibt die Buchhändlerin Merle, eine überzeugte Sozialistin, die wird es weiterhin geben... mit angepasstem Buchsortiment... und kritische Worte wird man von ihr nur mehr sehr spärlich vernehmen, und schon gar nicht öffentlich... es überwiegt die Sorge um sich und ihren Sohn Lothar.
Ja, Lothar, den habe ich ins Herz geschlossen am Anfang des Buches. Ein sensibler, ruhiger, stiller, intelligenter Junge. Einer, der lieber für sich alleine ist und die Natur erforscht, der keinem Verein und keiner Gruppe beitreten will, von anderen gemobbt wird und vom Fliegen träumt. Das Fliegen, das wird dann auch sein Schicksal und gibt seinen Weg vor, denn Flieger werden kann er nur im vorherrschenden System und das ist nationalsozialistische... also findet auch er zur HJ und wird später Kampfflieger, einer der besten, geehrt und bewundert. Der Redakteur Eugen, so stolz auf seinen Intellekt, seine Bildung und seine kritischen Glossen... auch er wird sich dem System anpassen und hoffen, dass seine scharfen Worte von früher unentdeckt bleiben und ihm nicht zum Nachteil geraten. Weitere Menschen, auch solche in scheinbaren Machtpositionen, die sich aber auch erpressbar machen, etwa durch abweichende sexuelle Neigungen, von denen keiner wissen darf und für die sie verfolgt werden könnten...
Alle diese und viele weitere, sind "ganz normale Menschen", wie es sie auch heute in jeder Kleinstadt zu finden gibt. Menschen mit Wünschen, Hoffnungen und Träumen, die individuell das Beste aus ihrem Leben machen möchten unter den vorherrschenden Bedingungen. Auch einige Menschen mit starken politischen Überzeugungen - aber kaum welche, die bereit sind, dafür in der Diktatur Leib und Leben zu opfern... da passen sie sich doch lieber an... würden wir unter diesen Bedingungen wirklich anders handeln und uns und unsere Familien gefährden? Viele kritische und auch unbequeme Fragen wirft das Buch auf.
Natürlich gibt es auch richtig unsympathische Menschen in dem Buch, solche, die voll von der vorherrschenden Ideologie überzeugt sind, und ihr alles opfern, selbst das eigene Kind. Blockwarte, Denunzianten und Sadisten hat es natürlich auch immer gegeben... doch auf diesen ist nicht das Hauptaugenmerk des Buches, sondern auf den "normalen", Menschen wie wir alle.
Das Jahr 1940... die Euphorie über den erfolgreichen Blitzkrieg und der Glaube, dass der Krieg nun vorbei und alles gewonnen sei... und die Desillusionierung 1945. Und all die Gräuel des Nationalsozialismus (angedeutet, aber nicht explizit auserzählt... ein Buch, das so vielen expliziten Schilderungen zu diesen Themen folgt, darf das machen, finde ich... denn bekannt sind die schrecklichen Details mittlerweile) und die menschenverachtende Ideologie dahinter, mit der insbesondere die Kinder und Jugendlichen zutiefst indoktriniert wurden.
Wer hätte etwas dagegen machen können? Wann hätte man noch etwas machen können? Wann war es zu spät? Und was hätte es gebraucht, damit sich nicht alle (oder fast alle) so dermaßen angepasst und mitgemacht hätten?
Es ist ein wertvolles, ein besonderes Buch, das zum Nachdenken anregt. Der Autor hat extrem sorgfältig recherchiert, sein Wissen über die damalige Zeit zeigt sich in vielen Details. Auch sprachlich zeichnet sich das Buch aus. Ganz besonders mochte ich die vielfältigen Perspektiven, die subtilen Andeutungen, die Einladungen, selbst zu hinterfragen und nachzudenken und wie es dem Autor gelingt, die Atmosphäre zunehmender Bedrohlichkeit und Vereinnahmung durch das System durch stilistische Mittel zu zeigen (z.B. wird der sensible Junge Lothar ganz nahe in vielen Szenen geschildert, während wir über den Kampfpiloten Lothar fünf bis zehn Jahre später eher aus den Erzählungen anderer hören, aber nicht mehr so wirklich mitkriegen, wie es ihm wirklich damit geht).
Auch das Coverbild passt hervorragend zum Buch. die Wolke, die die idyllische Stadt bedroht, kann auf mindestens zwei Arten interpretiert werden: als die herannahenden feindlichen Bomber, die die Stadt dem Erdboden gleichmachen werden (Hinweise darauf gibt es schon sehr früh, denn eingestreut sind kurze Ausschnitte der Perspektive eines jungen englischen Kampfpiloten, der aus dem Flugzeug fällt und mit seinem Fallschirm auf Ginsterburg zusteuert), aber auch als das giftige nationalsozialistische Klima, das die Stadt und ihre Bewohner immer mehr vergiftet.
Ich gebe zu, ich habe gezögert, mich für dieses Buch zu entscheiden, denn ich war des Themas schon etwas müde, hatte schon dutzende, wenn nicht hunderte, Bücher dazu gelesen in meinem Leben... doch einige Empfehlungen haben den Ausschlag gegeben, es lesen zu wollen. Ich bin so froh darüber, es getan zu haben!
Ja, dieses Buch schafft es - nach all den bestehenden eindringlichen Werken zum Thema - etwas grundlegend Neues zu schaffen und damit die Menschen noch einmal anders als bisher zum Denken anzuregen. Es geht um eine schreckliche Zeit, doch die allseits bekannten Schrecken werden nur subtil angedeutet: ein Kalendereintrag hier, eine kleine Bemerkung da... und doch wissen wir alle, worum es geht, und das macht es noch beklemmender zu lesen.
Die fiktive deutsche Kleinstadt "Ginsterburg" wird im Roman zu drei Zeitpunkten beschrieben: ausführlich im Jahr 1935 und 1940 sowie knapp am Ende im Jahr 1945. Wir erleben die Stadt und das Zeitgeschehen durch die Augen ihrer Bewohner. Im Jahr 1935 gibt es einen Wanderzirkus mit altem Tiger, Motorradkünstler und Wahrsagerin... diese tauchen später nicht mehr auf, so etwas wird aus dem Zeitbild verschwunden sein. Es gibt die Buchhändlerin Merle, eine überzeugte Sozialistin, die wird es weiterhin geben... mit angepasstem Buchsortiment... und kritische Worte wird man von ihr nur mehr sehr spärlich vernehmen, und schon gar nicht öffentlich... es überwiegt die Sorge um sich und ihren Sohn Lothar.
Ja, Lothar, den habe ich ins Herz geschlossen am Anfang des Buches. Ein sensibler, ruhiger, stiller, intelligenter Junge. Einer, der lieber für sich alleine ist und die Natur erforscht, der keinem Verein und keiner Gruppe beitreten will, von anderen gemobbt wird und vom Fliegen träumt. Das Fliegen, das wird dann auch sein Schicksal und gibt seinen Weg vor, denn Flieger werden kann er nur im vorherrschenden System und das ist nationalsozialistische... also findet auch er zur HJ und wird später Kampfflieger, einer der besten, geehrt und bewundert. Der Redakteur Eugen, so stolz auf seinen Intellekt, seine Bildung und seine kritischen Glossen... auch er wird sich dem System anpassen und hoffen, dass seine scharfen Worte von früher unentdeckt bleiben und ihm nicht zum Nachteil geraten. Weitere Menschen, auch solche in scheinbaren Machtpositionen, die sich aber auch erpressbar machen, etwa durch abweichende sexuelle Neigungen, von denen keiner wissen darf und für die sie verfolgt werden könnten...
Alle diese und viele weitere, sind "ganz normale Menschen", wie es sie auch heute in jeder Kleinstadt zu finden gibt. Menschen mit Wünschen, Hoffnungen und Träumen, die individuell das Beste aus ihrem Leben machen möchten unter den vorherrschenden Bedingungen. Auch einige Menschen mit starken politischen Überzeugungen - aber kaum welche, die bereit sind, dafür in der Diktatur Leib und Leben zu opfern... da passen sie sich doch lieber an... würden wir unter diesen Bedingungen wirklich anders handeln und uns und unsere Familien gefährden? Viele kritische und auch unbequeme Fragen wirft das Buch auf.
Natürlich gibt es auch richtig unsympathische Menschen in dem Buch, solche, die voll von der vorherrschenden Ideologie überzeugt sind, und ihr alles opfern, selbst das eigene Kind. Blockwarte, Denunzianten und Sadisten hat es natürlich auch immer gegeben... doch auf diesen ist nicht das Hauptaugenmerk des Buches, sondern auf den "normalen", Menschen wie wir alle.
Das Jahr 1940... die Euphorie über den erfolgreichen Blitzkrieg und der Glaube, dass der Krieg nun vorbei und alles gewonnen sei... und die Desillusionierung 1945. Und all die Gräuel des Nationalsozialismus (angedeutet, aber nicht explizit auserzählt... ein Buch, das so vielen expliziten Schilderungen zu diesen Themen folgt, darf das machen, finde ich... denn bekannt sind die schrecklichen Details mittlerweile) und die menschenverachtende Ideologie dahinter, mit der insbesondere die Kinder und Jugendlichen zutiefst indoktriniert wurden.
Wer hätte etwas dagegen machen können? Wann hätte man noch etwas machen können? Wann war es zu spät? Und was hätte es gebraucht, damit sich nicht alle (oder fast alle) so dermaßen angepasst und mitgemacht hätten?
Es ist ein wertvolles, ein besonderes Buch, das zum Nachdenken anregt. Der Autor hat extrem sorgfältig recherchiert, sein Wissen über die damalige Zeit zeigt sich in vielen Details. Auch sprachlich zeichnet sich das Buch aus. Ganz besonders mochte ich die vielfältigen Perspektiven, die subtilen Andeutungen, die Einladungen, selbst zu hinterfragen und nachzudenken und wie es dem Autor gelingt, die Atmosphäre zunehmender Bedrohlichkeit und Vereinnahmung durch das System durch stilistische Mittel zu zeigen (z.B. wird der sensible Junge Lothar ganz nahe in vielen Szenen geschildert, während wir über den Kampfpiloten Lothar fünf bis zehn Jahre später eher aus den Erzählungen anderer hören, aber nicht mehr so wirklich mitkriegen, wie es ihm wirklich damit geht).
Auch das Coverbild passt hervorragend zum Buch. die Wolke, die die idyllische Stadt bedroht, kann auf mindestens zwei Arten interpretiert werden: als die herannahenden feindlichen Bomber, die die Stadt dem Erdboden gleichmachen werden (Hinweise darauf gibt es schon sehr früh, denn eingestreut sind kurze Ausschnitte der Perspektive eines jungen englischen Kampfpiloten, der aus dem Flugzeug fällt und mit seinem Fallschirm auf Ginsterburg zusteuert), aber auch als das giftige nationalsozialistische Klima, das die Stadt und ihre Bewohner immer mehr vergiftet.