Dieses Buch ist Feuer

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galaxaura Avatar

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„Ginsterburg“, der neue Roman von Arno Frank, erschienen 2025 bei Klett-Cotta, ist ein Jahrhundertbuch, ein Buch, wie mensch es ganz selten liest, ein Buch, das Arno Frank nicht zufällig jetzt, genau jetzt geschrieben hat und das alle, ALLE! lesen müssen. Unbedingt. Ohne Ausnahme.

„Jetzt hat es sie erwischt.“ Mit diesem Satz startet das Buch und am Ende des Lesens erst wird sich die absolute Mehrdeutigkeit dieses Satzes offenbaren. Am Anfang noch scheinbar eindeutig zu nehmen, denn der Roman startet mit einem Klimax, bei einem Flugzeugabsturz, der sich in Etappen durch die Geschichte ziehen wird, mit ihm die bange Frage, ob der Pilot den Abschuss überleben wird.
Wir befinden uns in Ginsterburg, einer fiktiven Kleinstadt im Deutschland von 1935 bis 1945. Wer jetzt denkt, och nö, schonwieder Literatur über den 2. Weltkrieg, halte bitte ein. Denn so wurde diese Zeit, unsere Geschichte noch nicht geschrieben. Frank schafft es auf wirklich geniale Weise aufzuzeigen, wie alles begann – eine Frage, die sich gesellschaftlich gerade so dringlich stellt und nach Lektüre des Buches kann nur festgehalten werden: Es beginnt nicht. Es hat schon längst begonnen. Wir sind schon mittendrin.

Klug und immer menschlich zeigt Arno Frank die Entwicklung des kleinen Ortes Ginsterburg und der Menschen darin. Mit schnellen Strichen skizziert er eine Kleinstadt mit ihrem Personal, er gibt dabei wunderbar unklare klare Beschreibungen, die ein typisches Bild im Kopf entstehen lassen, ohne allzu präzise zu werden. Da sind die Kommunistin Merle und ihr Sohn Lothar, der später zu einem berühmten Fliegerhelden werden wird, die regimetreue Ursel und ihr Mann Eugen, der Journalist, der so gern Karriere machen würde, mit ihrer Tochter Gesine, die die neuen Zeiten und Theorien nur so aufsaugt. Da ist der kleine Fritz, dessen Behinderung noch Folgen haben wird, der Kreisleiter Otto, dessen Frau Henriette ihn gen Berlin verlassen hat, da ein Goldfasan ihr ein besseres Leben versprach, so dass er nun allein mit seinen Söhnen Bruno und Knut ist, die sich im Ort gehörig aufspielen. Da ist der Doktor Hansemann, der nicht umsonst Ähnlichkeiten zu einem Mengele aufweist. Um nur einige der Menschen zu nennen, die sich in einer neuen Weltordnung zurechtfinden müssen – und von denen schleichend, aber immer mehr, alle, wirklich alle ihren Widerstand aufgeben, wenn sie ihn denn jemals empfunden haben. Das Grauen des 3. Reiches ist mehr als präsent, ohne dass alles explizit ausgesprochen werden muss, die kleine Stadt ist total lebendig spürbar, die Menschen haben alle einen gut lesbaren Charakter. Ginsterburg ist Klein-Deutschland, beinhaltet alles, was wir kennen.

Geschickt und absolut zerstörerisch zeigt Frank, wie der Nationalsozialismus immer mehr um sich greift, wie ein Fliegenfänger immer mehr Menschen an sich klebt, wie geschickt manipuliert wird und die Menschen bei ihren Interessen und Sehnsüchten abgeholt werden, bis fast jeder ins Netz geht – einige Überzeugte wie Ursel und Otto ganz voran. Eugen, der seiner Familie etwas bieten und erfolgreich sein will, Lothar, der so gern fliegen möchte, Gesine, die ihrem Bild einer glücklichen Familie hinterherrennt, Menschen, die teils doch ganz auf der anderen Seite standen, doch nun schleichend doch gepackt und eingemeindet werden. Ich habe glaube ich noch nie einen Roman gelesen, der so gut zeigt, wie unauffällig und doch allumfassend es passiert, dass der Faschismus salonfähig wird. Super beängstigend angesichts dessen, was gerade in der Welt geschieht. Frank beschreibt perfekt diesen Mikrokosmos der kleinen Stadt, in der irgendwie jeder mit jedem verbandelt ist und jeder von jedem abhängig. Er zeigt die Brutalität genauso wie das Weggucken oder einfach nur Nichtstun, die Infiltration der Jugend, die Manipulation, die um sich greifende Angst, die Abhängigkeitsverhältnisse. Er zeigt ganz durchschnittliche Menschen, die wenigsten sind hier „böse“, und doch am Ende: sind sie alle gefangen. Und verrückterweise gibt es bei all dieser Härte doch auch noch Humor, der bei allem Schrecklichen immer wieder durch das Buch weht.

„Opfer müssen gebracht werden“, immer wieder fällt dieser Satz, ein innerer Glaubenssatz, den die Nazis so vielen Menschen so souverän eingeimpft haben – und mit dem sie Aufstand, Widerstand durch einen dummen Glauben verhindern konnten. Nein, Opfer müssen nicht für das Grundfalsche gebracht werden. Diese Erkenntnis gewinnt jedoch einfach niemand der Beteiligten ganz – und das ist leider nur verdammt ehrlich und genau von Frank geschrieben. Durch das Buch zieht sich auch eine Menge Symbolik, unter anderem tauchen immer wieder Kraniche auf, die mythologisch die Seelen der Gestorbenen gen Himmel tragen. Doch der Krieg vernichtet auch die Kraniche. Und schickt damit alle Seelen in die Hölle. Das Cover des Buches, das eine große Rauchwolke über einer ländlichen Idylle zeigt: Es schaut auf Ginsterburg 1945. Und gleichzeitig auch auf die Welt 2025.

Frank schreibt einfach gigantisch gut, mühelos wechselt er zwischen den vielen einzelnen Geschichten hin und her, webt ein komplexes Netz der Ereignisse und Betrachtungen, bettet immer wieder historische Dokumente und reale Ereignisse in seine Fiktion ein, bewegt sich sprachlich auf einem unfassbar hohen Niveau mit wunderbaren Wortschöpfungen, Sprichwortverdrehungen und gekonnten, minimalen Bedeutungsverschiebungen. In Nebensätzen fallen grausamste Informationen, ganz nebenbei, ganz selbstverständlich, so dass die Tragweite nicht nur den Menschen im Roman, sondern auch uns Lesenden oft erst ein paar Sätze später bewusst wird. Denn uns wird sie immer bewusst, denn wir wissen. Wir wissen! Und anders als die Menschen im Roman müssen wir dieses Wissen verwenden und verhindern. Dieser Appell kriecht durch alle Zeilen, ohne dass Frank ihn jemals aussprechen muss, doch sein Roman ist so durchdrungen vom Zeigen, dass er förmlich schreit. Das braune Grauen ist noch immer gegenwärtig wird auch noch lange nicht beendet sein.

Was für ein Buch, was für ein Epos. Ich bin völlig geplättet, ein ganz großer Wurf. Ich habe viel erwartet, aber das ist noch mehr. Wenn dieses Werk nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises landet, was dann? Ein Must-Read für alle. Im Roman hat es, wir denken noch einmal an den ersten Satz, alle erwischt, ausnahmslos, niemand ist der Ideologie entkommen, trotz völlig unterschiedlicher Ausgangspositionen. Dieses Buch ist Feuer. Noch ist Zeit. Lasst uns nicht erneut verbrennen.