Gesellschaftsportrait im Mikrokosmos

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Ginsterburg ist eine fiktive Stadt irgendwo mitten in Deutschland. Arno Frank führt uns zu drei verschiedenen Zeitpunkten dorthin: 1935, zwei Jahre nach der Machtergreifung, 1940, noch relativ am Anfang des zweiten Weltkriegs, und schließlich 1945, als das Ende bereits naht. Dabei begleiten wir immer die gleichen Personen und verfolgen ihre Entwicklung. Da ist Merle, eine Buchhändlerin, die nicht besonders viel für das Regime übrig hat. Ihr zu Beginn dreizehnjähriger Sohn Lothar wird durch die Hitlerjugend vereinnahmt und möchte Pilot werden. Merle verbindet eine Leidenschaft mit Eugen, Journalist bei der Lokalzeitung und Mann ihrer besten Freundin, zunächst nur für Bücher, später auch körperlich. Merles Nachbarin ist leidenschaftliche Nationalsozialistin, auch wenn diese ihren geistig behinderten Sohn als „Ballastexistenz“ bezeichnen. Otto Gürckel nutzt die Gunst der Stunde, steigt zum Kreisleiter auf und verwendet seine Beziehungen, um das Familienunternehmen voranzubringen.
Anhand dieser und weiterer Personen zeigt Arno Frank exemplarisch und in einem Mikrokosmos die verschiedenen Persönlichkeiten, die ein solches System hervorbringt: Mitläufer, glühende Anhänger, Profiteure. Dabei drehen sich nicht wenige die Welt so, wie sie es gerade brauchen, um zusätzlichen Gewinn herauszuziehen. Gerade gegen Kriegsende, als vielen die ausweglose Lage bereits bewusst ist, wird dies noch einmal besonders deutlich.
Das tatsächliche Kriegsgeschehen und auch die Politik in Berlin scheinen von Ginsterburg weit weg zu sein. Doch auch dieser Ort wird von ihnen eingeholt. Im Vordergrund stehen dabei aber die zwischenmenschlichen Beziehungen.
Sprachlich ist Ginsterburg äußerst gelungen. Jede Figur hat ihren eigenen Ton. Auch die Beschreibungen der Stadt zwischendurch passen perfekt, sie lassen sie lebendig werden. Lediglich römische Zahlen sollte sich der Autor noch einmal genauer anschauen. MDXCVII ist nämlich nicht 1497, sondern 1597, aber das nur nebenbei.
Ich war zunächst sehr begeistert von Ginsterburg. Besonders die ersten beiden Teil lesen sich sehr gut. Im dritten Teil nimmt nicht nur der Kriegsverlauf eine Wendung, auch die Handlung schlägt häufig eine andere Richtung ein. Nicht alles davon fand ich erzählerisch gleich gut gelungen. Der Schluss ist relativ offen, aber dennoch passend. Was ich mir jedoch sehr gewünscht hätte, wäre ein Bezug zum zu Beginn des Romans erwähnten Wanderzirkuses gewesen. Dieser findet lediglich im 1940 spielenden Teil noch kurz Erwähnung, ist sonst aber komplett von der Bildfläche verschwunden.
Wie bewerte ich nun den Roman? Das fällt mir ehrlich gesagt etwas schwer. Ich mochte, es, dass nicht wie in anderen Romanen Gestapo, SS etc im Fokus stehen, sondern hier fast keine Rolle spielen. Gleichzeitig kamen gerade im letzten Teil einige Elemente hinzu, die alles ein wenig unglaubwürdig wirken ließen (die Marlene Dietrich-artige Rückkehr von Gürckels Frau, ein vierjähriges Mädchen, das Stimmen und Geräusche als Instrumente sieht und insgesamt wie ein deutlich älteres Kind spricht…). Mir ist nicht ganz klar, was der Autor hiermit bezwecken möchte.