Wollseifener Geschichtsstunde

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martinabade Avatar

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Da sitzt Leser oder Leserin gemütlich im Sessel oder in der Leseecke und schmökert fast 400 Seiten einen historischen Roman. „Toll recherchiert“, denkt man sich das ein oder andere Mal, fiebert mit einzelnen Figuren, hofft für die Liebe, heult mit den Angehörigen von Kranken, Verletzten und Verstorbenen. Wie immer, wenn ich über einen Text schreiben will, mache ich mir Notizen und recherchiere hinterher über Autor*in, Sujet und mögliche Zusammenhänge. So auch hier für den neuen Titel von Anna-Maria Caspari „Ginsterhöhe“. Und bin dabei auf den Hintergrund dieses Buches gestoßen, der mindestens so spannend ist wie der Roman selbst.

Die Autorin lebt in der Nähe des Ortes des Geschehens. Das Dorf Wollseifen gab es wirklich. Die Entscheidung der Nazis, in dessen Nähe, auf dem so genannten Vogelsang, eine Ordensburg der Nationalsozialisten und eine weit reichende Ausbildungs- und Versorgungsinfrastruktur zu errichten, war letztendlich sein Todesurteil. In der Eifel gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg erste Ansätze von Tourismus. In den 20er Jahren bekam Wollseifen als erster Ort in der Gegend eine elektrische Strom- und eine eigene Wasserleitung. Es gab ein reiches und lebendiges gesellschaftliches Leben.

Nach der Machergreifung wurden der Vogelsang zum Dorf und damit auch die Gemeinde Wollseifen nach und nach auf- und ausgebaut. Neben der „Ordensburg“, zur Erziehung der 1000% Nazis, nah bei Wollseifen, entstand eine „Wohnanlage“ für die zivilen Beschäftigten auf der Ordensburg.
In den letzten Monaten des Jahres 1944, als der Krieg im Westen Europas begann, zugunsten der Alliierten zu kippen, nahmen diese blutige Rache und bombardierten den Vogelsang, die Gemeinde und den ganzen Landstrich in Grund und Boden. Die Geschichte geht weiter, das will ich hier nicht ausführen, - ich hoffe auf eine Fortsetzung. Das Buch endet mit der „Evakuierung“?, „Verbringung“?, „Vertreibung“? der verbliebenen Bewohner aus ihren Häusern von ihren Feldern. Manche von Ihnen lassen die Schlüssel in den Haustüren stecken. Sie kommen ja bald wieder.

Nun zum Roman, denn Geschichte braucht Gesichter:

Am Beispiel der Familie Lintermann tauchen wir tief in die Geschichte des Ortes und seiner Menschen ein. Im Winter 1919 holt der alte Bauer Lintermann seinen Sohn vom Bauernhof ab. Albert hat gemeinsam mit seinem besten Freund Hennes für König- und Kaiserreich gekämpft. Albert hat dabei einen Wangendurchschuss erlitten, sieht nur noch auf einem Auge und hat Monate im Lazarett gelegen; Hennes ist auf dem Feld geblieben.
Zuhause erwarten auf Albert ein heruntergekommener Hof, weil Brüder, Freunde und Knechte nach und nach zum Dienst an der Front gezogen wurden, die quasi „verwitwete“ Verlobte von Hennes, die mit einem fast zweijährigen Kind im Hause des Lehrers täglich der Rückkehr ihres Bräutigam entgegensieht und Alberts eigene Frau Bertha, die ihrem Mann monatelang nicht ins Gesicht sehen kann. Nicht aus Liebe oder Mitgefühlt sondern aus Ekel.

Doch Albert greift dem Schicksal ins Maul und packt an. Er schluckt die Schmerzen herunter und baut Haus und Hof wieder auf. Er streitet sich mit dem Vater über „Neuerungen“, die seinerseits dringend nötig wären und geht abends zum Bier in die Wirtschaft zu seinem Freund, dem Wirt Silvio. Sollen die anderen doch starren.

Bald glauben wir uns in einer Geschichte von Erfolg und Aufstieg, bis bereits Mitte der 20er Jahre die ersten schwarzen und braunen Uniformen auf dem Tableau erscheinen, und die ersten Zeichen drohenden Unheils am Horizont erscheinen.