Durchschnittliches Psychogramm

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la calavera catrina Avatar

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Alexandra Gracie (Girl A) sucht ihre Geschwister auf, um als Testamentsvollstreckerin den Nachlass des Elternhauses zu regeln, nachdem die Mutter im Gefängnis verstorben ist. Es ist das Horrorhaus, indem sie mit ihren sechs Geschwistern von ihren Eltern gefangen gehalten wurde: angekettet am Bett, vor Dreck starrend und bis auf die Knochen abgemagert. Alex gelang damals die Flucht und so erzählt sie in Rückblenden von Vergangenem, aufgewühlt, durch die Begegnung mit ihren Geschwistern. Mittlerweile ist sie Anwältin und durch die stetige Betreuung einer Psychologin stabil, doch die erneute Konfrontation mit dem Trauma entfesselt unangenehme Wahrheiten.

Der Aufbau ist anfangs gewöhnungsbedürftig: Alex Erinnerungen und Rückblenden werden nur durch einen Absatz deutlich gemacht und springen zwischen Gegenwart und verschiedenen Zeitebenen der Vergangenheit hin und her. Dadurch erhält man häppchenweise Informationen über den schleichenden Prozess einer normalen Familie bis zur Gefangenschaft und Flucht, über den Werdegang der Geschwister, die von verschiedenen Paaren adoptiert wurden, und über Alex und ihre Rolle im komplizierten Geschwister-Beziehungsgeflecht. Nach und nach fügt sich ein Bild zusammen. Mit einer Ausnahme ist jedes der sieben Kapitel einem der Gracie-Kinder gewidmet und richtet sich nach der Reihenfolge der Kontaktaufnahme.

Der Klappentext täuscht packende Spannung vor und weckt möglicherweise falsche Erwartungen. Es war viel mehr ein bedrückendes Psychogramm, das behutsam an die grausamen Ereignisse und ihre Folgen heranführt, aufbereitet mit Nebensächlichkeiten. Alex beschreibt ihre traumatischen Erinnerungen sachlich, schonungslos - manches wird nur angedeutet - und bleibt dabei auf Distanz, was sie und ihre Geschwister schwer einschätzen lässt. Mit vorschreitender Seitenzahl wird es spannender und ein überraschender Plot konnte mich überraschen. Für den weiteren Handlungsverlauf hätte ich mir mehr Raffinesse gewünscht.

Fazit: Ein Buch, in dem es um eine anfangs ganz normale Familie geht, die durch den religiösen Wahn des Vaters ungeahnte Ausmaße annimmt. Für ein Debütroman hat Abigail Dean sprachliches Geschick bewiesen und einen psychologisch interessant aufgebauten Roman geschrieben, der von einer Überlebenden erzählt, die weiterlebt, ohne ihr Trauma jemals wirklich hinter sich lassen zu können. Für ein rundes Leseerlebnis hätte ich mir einen Erzählstil gewünscht, der mehr Nähe zulässt und das ganze Spektrum seines Potenzials nutzt.