Empfehlung

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skmn10 Avatar

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Kirsty Capes ist mit „Girls“ ein bewegender, vielschichtiger Roman gelungen, der weit mehr ist als eine Familiengeschichte – er ist ein intensives Porträt über Kunst, Erinnerung, Schwesterlichkeit und das Ringen um Selbstbestimmung.

Im Mittelpunkt stehen Matilda und Nora, zwei Schwestern, deren Leben von der übergroßen Figur ihrer Mutter überschattet wird: der weltberühmten Künstlerin Ingrid Olssen. In der Öffentlichkeit gefeiert für ihr Werk, war sie für ihre Töchter vor allem eines: unberechenbar, egozentrisch – und auf tragische Weise unnahbar. Besonders ihr berühmtestes Gemälde, „Girls“, in dem sie sich selbst zusammen mit Matilda und Nora porträtiert, wird zum Symbol für das Spannungsverhältnis zwischen öffentlichem Bild und privatem Schmerz.

Zwei Jahre nach dem Tod der Mutter ist es ein Biograf, der die Vergangenheit wieder aufwühlt – und eine Retrospektive im MOMA, die gegen Ingrids erklärten Willen geplant ist. Was folgt, ist ein ebenso wilder wie tief berührender Roadtrip zweier sehr unterschiedlicher Schwestern durch den Westen der USA. Diese Reise führt sie nicht nur geografisch, sondern auch emotional zurück zu den Menschen, Orten und Entscheidungen, die sie geprägt haben. Dabei rückt immer mehr die Frage in den Mittelpunkt: Wie viel Wahrheit steckt in einem Leben, das von außen betrachtet wurde – und wie sehr darf man sich selbst neu erfinden?

Capes erzählt mit großem Feingefühl, aber auch mit Wucht. Ihre Sprache ist poetisch und direkt zugleich, oft melancholisch, dann wieder überraschend komisch – immer aber durchdrungen von einer tiefen Menschlichkeit. Die Dynamik zwischen Matilda und Nora ist glaubwürdig und vielschichtig: zwischen Wut und Zärtlichkeit, zwischen Distanz und dem unausgesprochenen Wunsch nach Nähe. Es ist diese Beziehung, die dem Roman sein emotionales Herz verleiht.

Besonders beeindruckend ist, wie „Girls“ die Frage nach künstlerischer Freiheit, weiblicher Identität und der Verantwortung gegenüber den eigenen Kindern verhandelt – ohne einfache Antworten zu liefern. Ingrid Olssen bleibt eine ambivalente Figur, eine Frau zwischen Selbstverwirklichung und Selbstzerstörung. Capes gelingt es, diesen Konflikt weder zu verurteilen noch zu verherrlichen – sondern ihn als das darzustellen, was er ist: menschlich.

Fazit:
„Girls“ ist ein kluger, intensiver und tief berührender Roman über das, was bleibt, wenn eine überlebensgroße Mutterfigur verschwindet – und über den Mut, sich von ihrer Geschichte zu lösen, ohne sie zu vergessen. Ein Buch, das lange nachhallt – schmerzhaft, zärtlich, ehrlich. Absolute Empfehlung.