Gefährliche Gewässer

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diebuchprüferin Avatar

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Das "Grand Hotel Avalon" ist ein seltsames Buch. Anspruchsvoll, abgefahren, anders als erwartet.

Wenn man den Klappentext liest, denkt man zunächst an nichts weiter Geheimnisvolles, sondern hat vor allem das interessante Arrangement vor Augen, bei dem Diplomatenfamilien aus Nazi-Deutschland, Japan und anderen Ländern, die die USA 1942 als feindlich definierte, in ein riesiges und überaus abgelegenes Hotel in den Bergen West Virginias einquartiert werden, bevor sie ausgeflogen werden sollen.
June, die das Avalon seit einiger Zeit für die Besitzer, die Familie Gilfoyle, leitet und von den Angestellten in glühender Loyalität "Hoss" genannt wird, ist eine kleine, unscheinbare Person, bewirkt jedoch für ihre Gäste wahre Wunder und hat buchstäblich alles im Griff. Zumindest bis die Einquartierung ins Avalon erfolgt und mit den zum Teil gefährlichen (und grässlichen) Gästen auch FBI-Agent Tucker Minnick eintrifft, um mit seinen Männern mögliche Feindesaktivitäten in Schach zu halten.

Der Roman beginnt ausgesprochen ruhig und genießerisch, da Stiefvater zunächst ein schon für sich faszinierendes Bild dieses Grand Hotels malt, das für an Luxus gewöhnte Leute eine "angenehme Umgebung" bietet, für Leute hingegen, die "aus einem ganz normalen Leben" kommen, "eine religiöse Erfahrung" darstellt. Als dann die Ausnahmegäste einfallen, was (fast) alle anderen zur Abreise zwingt, eröffnet sich mitten in diesem zeitlosen Idyll eine spannende politische Ebene. Es wird unruhig im Hotel. Und aus einem faszinierenden Buch wird ein fantastisches.

Dieser Roman punktet mit gut durchdachter Sprache, weiß seinen Plot spannend zu erzählen und fesselt dabei sowohl mit historischen Bezügen als auch mit solchen zu verschiedenen Metaebenen. Zumal er die ganze Zeit immer wieder neue Geheimnisse ans Tageslicht treten lässt: über Tucker und June, über Hannelore und Sandy, über das Hotel und das Wasser. Ja, denn das Wasser, das aus den Quellen der Gegend sprudelt, spielt seine ganz eigene und manchmal fast etwas unheimliche Rolle.
Vor dem Hintergrund der brisanten politischen Lage beschäftigt besonders die Entwicklung der Protagonistinnen und Protagonisten, die von den großen Ereignissen, aber auch von ihren eigenen Nöten getrieben werden. Die erwähnte Hannelore zum Beispiel ist ein kleines Mädchen, das nicht spricht und heute als neurodivers definiert werden würde - man kann sich denken, was das Kind bei der Rückkehr mit seinen Eltern nach Nazideutschland erwartet. Sandy hingegen ist einer der Söhne der Gilfoyles, der mit einem sogenannten Granatenschock aus dem Krieg zurückgekehrt ist und hilflos im Rollstuhl sitzt.

Es wird schon eine June brauchen, die neben ihren ganz eigenen Problemen auch die ihrer Gäste zu lösen gewohnt ist - mit nach außen hin leichter Hand und womöglich einer Prise von dem, was sie in anderem Zusammenhang einmal als "Magie" bezeichnet ...

Wenn ihr in der Realität verankerte und doch mit besagter Prise gewürzte Bücher zu schätzen wisst, die - nicht nur psychologisch - tief gründeln und vielschichtig gezeichnete Figuren in einem komplizierten Tanz durcheinanderwirbeln, kann euch die Buchprüferin nur eines empfehlen: Lesen!