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Unkonventionelles Thema, interessant umgesetzt

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libby196 Avatar

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„Guy's Girl“ von Emma Noyes ist ein Buch, das mich durch seine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Essstörungen (Anoregie und Bulimie) und den dahinterliegenden Prozessen fasziniert hat (die Triggerwarnung am Anfang ist daher angebracht). Die Autorin verarbeitet dabei viele ihrer eigenen Erfahrungen, was dem Buch eine besondere Tiefe verleiht. Die Thematisierung von Anorexie und Bulimie ist dabei besonders ehrlich und fast schon brutal, was dem Werk viel Authentizität verleiht.
Das Cover des Buches ist wunderschön und der Schreibstil von Emma Noyes ist sehr gut lesbar und flüssig. Die Kapitel wechseln abwechselnd zwischen Ginnys und Adrians Sicht, wobei meiner Meinung nach die längeren Kapitel, in denen beide zusammen sind, besonders ansprechend sind. Aufgrund des allwissenden Erzählstils erfährt man dadurch als Leser:in die Gefühlslagen beider Protagonist:innen, die sich das Leben aufgrund ihrer persönlichen Traumata schwer machen. Am Ende des Buches werden Ginnys Tagebuchausschnitte eingefügt, was einen zusätzlichen Einblick in ihre Gedankenwelt ermöglicht.
Die Darstellung der psychischen Aspekte von Ginnys Essstörung ist gut nachvollziehbar, jedoch vermisse ich etwas mehr Fokus auf die körperlichen Auswirkungen (sie muss doch unglaublich schwach gewesen sein, ständiges Erbrechen schadet auch den Zähnen etc.). Gut gefallen hat mir auch Adrians „Innenleben“, weil viele Männer unter dieser „toxischen Männlichkeit“ leiden und denken, nie über Gefühle sprechen zu dürfen, weil sie dann als „schwach“ gelten. Seine persönliche Geschichte und sein Kampf, endlich Gefühle zuzulassen, war sehr einfühlsam geschrieben.
Die Liebesgeschichte zwischen Ginny und Adrian bildet einen roten Faden im Buch und sorgt für einen gelungenen Spannungsaufbau. Die Wendungen und unvorhersehbaren Ereignisse halten die Spannung bis zum Ende aufrecht, was mir gut gefallen hat. Bis zur letzten Seite weiß man nicht, ob sie sich am Ende finden werden.
Allerdings gibt es auch Punkte, die mich etwas gestört haben. Die Darstellung von Ginny als „Pick-me-Girl“-Prototyp, der scheinbar besser mit Jungs als mit Mädchen zurechtkommt, wirkt klischeehaft. Die fehlende Präsenz weiblicher Figuren (außer Ginnys Schwester ganz am Ende, die aber sehr oberflächlich dargestellt wird) wirft die Frage auf, ob Frauen in diesem Buch bewusst an den Rand gedrängt werden. Die Passagen, in denen Ginny Frauenfreundschaften abwertet, wirken auf mich problematisch. Beispielsweise Seite 17: „Überhaupt liebt Ginny Jungs. Nicht in sexueller Hinsicht. Nein, was sie an Jungs liebt, ist ihre Gesellschaft. Männerfreundschaften sind anders als Frauenfreundschaften. Einfacher. Ohne das ganze Drama“
Dass Männerfreundschaften angeblich „weniger Drama“ beinhalten, macht sie nicht besser, sondern verschleiert, was die Menschen wirklich beschäftigt (Gefühle, Gedanken, Ängste, Emotionen) – vielleicht wäre es in einer „Frauenfreundschaft“ gar nicht so weit gekommen und Ginny hätte früher über ihre wahren Gefühle gesprochen. Oder sie hat sich bewusst nur Männer als Freunde ausgesucht, um eben ihre Probleme nicht ansprechen zu müssen. Generell fand ich es fragwürdig, dass niemandem ihr krasser Gewichtsverlust aufzufallen scheint.
Und - Ja, es ist eine Liebensgeschichte, aber ich persönlich mag den Plot „Junge rettet Mädchen“ irgendwie nicht. Auch, wenn beide ihre eigenen Dämonen bekämpfen und sich am Ende irgendwie gegenseitig “retten”, ist vor allem die Zeit in Ungarn meiner Meinung nach unrealistisch. Auch, dass er am Ende einfach mit ihr kommt, damit sie die Therapie machen kann wäre in der Realität sicher schwer umsetzbar (aber es ist ein Buch, hier darf es auch mal ein etwas unglaubwürdiges Happy End sein). Ich hätte mich über einen Epilog gefreut, denn Ginny hat ihre Essstörung ja noch lange nicht überwunden, auch wenn es aufwärts geht. Die eigenen Glaubenssätze (dick, hässlich, nicht liebenswert zu sein etc.) brauchen viel Therapie, damit keine Rückfälle passieren.
Trotz dieser Kritikpunkte ist „Guy's Girl“ ein wichtiges Buch, das sensibel und realitätsnah, fast schonungslos, die Thematik von Essstörungen behandelt. Die persönliche Erfahrung der Autorin verleiht dem Werk Authentizität, und die Liebesgeschichte zwischen Ginny und Adrian sorgt für einen gelungenen Spannungsbogen. Leser:innen, die sich für Geschichten über persönliche Entwicklung, Essstörungen und zwischenmenschliche Beziehungen interessieren, werden dieses Buch zu schätzen wissen.