Gescheiterte Gesellschaftskritik
Verenas Keßlers dritter Roman "Gym" verspricht einen gesellschaftskritischen und zynischen Blick auf Körperbilder in der Fitnesskultur. Er versucht klug zu sein, schonungslos, überspitzt – doch er bleibt in seinen Versuchen stecken und wirkt am Ende wie das, was er eigentlich entlarven möchte: ein oberflächliches Schauspiel ohne Tiefgang.
Schon der Einstieg wirkt bemüht originell. Um einen Job im MEGA GYM trotz „Erdnussflipbauch“ zu ergattern, behauptet die namenlose Protagonistin, gerade ein Kind bekommen zu haben. Denn ihre Unsportlichkeit entgeht auch nicht dem scharfen Blick des selbstproklamierten Feministen und Inhaber vom MEGA GYM Ferhat, der eine junge Mutter bestmöglich unterstützen möchte und sie schließlich einstellt. Das Buch basiert mit dieser Szene auf einer fiktionalen Prämisse, die in der Realität wenig plausibel wäre: Eine Frau wird eingestellt – nicht obwohl, sondern weil sie Mutter ist. Der ironisch-kritische Effekt, den diese erste Szene im Roman erzeugen soll, stellt sich allerdings nicht ein. Denn ihre Lüge, im ersten Moment scheinbar im Affekt ausgesprochen, wird von ihr bald sehr bewusst ausgebaut. Es werden Babyfotos von entfernten Instagram-Bekanntschaften gestohlen und ihren Kolleginnen stolz als eigene präsentiert, eine Großmutter ersonnen, die sich angeblich rührend um das Baby kümmert und zusätzliche Arbeitspausen genommen, um "Stillzeiten" einzuhalten. Die Hauptfigur nutzt so die gesellschaftliche Empathie für Mütter, ohne selbst Mutter zu sein. In der Konsequenz wird unser soziales System, das Frauen erst durch sichtbare Belastung legitime Rücksicht zugesteht, auf ironische Weise hinterfragt. Allerdings verstrickt sie sich irgendwann selbst so sehr in ihrem Lügenkonstrukt, dass sie jeglichen Realitätsbezug verliert. Zudem möchte Ferhat ihr zu ihrer ehemaligen Fitness zurückverhelfen. So beginnt die Protagonistin vor, nach und irgendwann auch während ihrer Arbeitszeit im MEGA GYM zu trainieren. Zu Beginn fällt eine Identifikation mit der Protagonistin diesbezüglich noch leicht, nimmt sie doch vor allem die Pausen zwischen den Übungen und Sätzen ernst. Doch plötzlich schlägt es um und sie verfällt förmlich in einen Fitnesswahn. Sie ist ständig in Bewegung, geht immer wieder über ihr Limit hinaus und beginnt eine Ernährungsweise, die selbst für Vick, Bodybuilderin im MEGA GYM und neue Obsession der Protagonistin, zu viel wäre. Und dann wird es schlicht widerlich und brutal, wenn von reißenden Muskelfasern, knackenden Knochen und Fleischbrei unter den Fingernägeln die Rede ist. Der Versuch, den Fitnesswahn und die Körperkultur in der Fitnessbranche überspitzt darzustellen und damit gleichzeitig Kritik zu üben sowie für einen Lacher zu sorgen, misslingt allerdings. Die Lüge ist nicht nur Theater, sondern zu einer Ersatzrealität geworden, in die sich die Protagonistin zu flüchten versucht. Denn während sich die Situation im MEGA GYM immer weiter zuspitzt, erinnert sie sich gleichzeitig immer häufiger an Momente aus ihrer beruflichen Vergangenheit, die sie lieber vergessen möchte. Dabei bleibt die Protagonistin trotzdem eindimensional, denn über ihr Leben außerhalb eines Arbeitskontexts wird nichts preisgegeben.
Der Roman will offenbar keine Empathie für die Hauptfigur erzeugen, was ein legitimes literarisches Mittel ist. Doch "Gym" scheitert bereits daran, zumindest Interesse aufrechtzuerhalten. Denn die Protagonistin, die hier über knapp 200 Seiten begleitet wird, entzieht sich jeder Greifbarkeit. Sie ist weder tragisch noch faszinierend, sondern schlicht leer. Man kann darin eine kluge Reflexion über ein entleertes Selbst sehen – oder schlicht eine Figur, die nicht funktioniert. Ihre Motive bleiben unklar und das, obwohl der Roman ausschließlich in der ich-Perspektive geschrieben ist. Durch die gewählte Erzählperspektive bleiben auch die anderen Charaktere des Romans eindimensional. Sie sind eher Stereotypen als Menschen. Niemand hinterfragt das Lügenkonstrukt der Protagonistin. "Gym" lässt sich auch hier nicht als Gesellschaftskritik lesen, denn wer sich Stereotypen bedient, die eine gesellschaftliche Gruppe (Gym-Mitarbeiter:innen) naiv und dümmlich aussehen lassen, ist nicht kritisch, sondern diskriminierend.
In der jüngsten Gegenwartsliteratur werden unsympathische Protagonistinnen, die provozieren sollen, scheinbar im Überfluss genutzt. Allein in diesem Jahr wurden Romane wie "Geht so" von Beatriz Serrano oder "Nowhere Heart Land" von Emily Marie Lara veröffentlicht, die ebenso mit ihren Protagonistinnen schockieren möchten. Während beispielsweise in "Geht so" am Ende die Kritik an der Leistungsgesellschaft durch Überspitzung gelingt, misslingt dies bei "Gym", da hier alles von Beginn an künstlich konstruiert wirkt. Rosa ist ebenso eine grundsätzlich unsympathische Figur, mit der eine Identifizierung immer schwerer fällt, und trotzdem hat "Nowhere Heart Land" Momente, in denen man wie in einen Spiegel schaut. All das ist bei "Gym" nicht möglich. "Gym" möchte Kapitalismuskritik sein, ein feministisches Statement, ein ironisches Schauspiel. Doch all diese großen Themen werden lediglich angerissen und dann wieder fallen gelassen. Die Fitnesswelt dient als Projektionsfläche für alles und nichts – sie bleibt Bühne ohne Drama.
Wer ironische Selbstinszenierung und distanzierte, nicht-greifbare Figuren in Literatur mag, wird hier vielleicht fündig. Für mich war "Gym" leider ein Beispiel dafür, wie eine überspitzte Gesellschaftskritik an ihrer eigenen Überspitzung scheitert.
Schon der Einstieg wirkt bemüht originell. Um einen Job im MEGA GYM trotz „Erdnussflipbauch“ zu ergattern, behauptet die namenlose Protagonistin, gerade ein Kind bekommen zu haben. Denn ihre Unsportlichkeit entgeht auch nicht dem scharfen Blick des selbstproklamierten Feministen und Inhaber vom MEGA GYM Ferhat, der eine junge Mutter bestmöglich unterstützen möchte und sie schließlich einstellt. Das Buch basiert mit dieser Szene auf einer fiktionalen Prämisse, die in der Realität wenig plausibel wäre: Eine Frau wird eingestellt – nicht obwohl, sondern weil sie Mutter ist. Der ironisch-kritische Effekt, den diese erste Szene im Roman erzeugen soll, stellt sich allerdings nicht ein. Denn ihre Lüge, im ersten Moment scheinbar im Affekt ausgesprochen, wird von ihr bald sehr bewusst ausgebaut. Es werden Babyfotos von entfernten Instagram-Bekanntschaften gestohlen und ihren Kolleginnen stolz als eigene präsentiert, eine Großmutter ersonnen, die sich angeblich rührend um das Baby kümmert und zusätzliche Arbeitspausen genommen, um "Stillzeiten" einzuhalten. Die Hauptfigur nutzt so die gesellschaftliche Empathie für Mütter, ohne selbst Mutter zu sein. In der Konsequenz wird unser soziales System, das Frauen erst durch sichtbare Belastung legitime Rücksicht zugesteht, auf ironische Weise hinterfragt. Allerdings verstrickt sie sich irgendwann selbst so sehr in ihrem Lügenkonstrukt, dass sie jeglichen Realitätsbezug verliert. Zudem möchte Ferhat ihr zu ihrer ehemaligen Fitness zurückverhelfen. So beginnt die Protagonistin vor, nach und irgendwann auch während ihrer Arbeitszeit im MEGA GYM zu trainieren. Zu Beginn fällt eine Identifikation mit der Protagonistin diesbezüglich noch leicht, nimmt sie doch vor allem die Pausen zwischen den Übungen und Sätzen ernst. Doch plötzlich schlägt es um und sie verfällt förmlich in einen Fitnesswahn. Sie ist ständig in Bewegung, geht immer wieder über ihr Limit hinaus und beginnt eine Ernährungsweise, die selbst für Vick, Bodybuilderin im MEGA GYM und neue Obsession der Protagonistin, zu viel wäre. Und dann wird es schlicht widerlich und brutal, wenn von reißenden Muskelfasern, knackenden Knochen und Fleischbrei unter den Fingernägeln die Rede ist. Der Versuch, den Fitnesswahn und die Körperkultur in der Fitnessbranche überspitzt darzustellen und damit gleichzeitig Kritik zu üben sowie für einen Lacher zu sorgen, misslingt allerdings. Die Lüge ist nicht nur Theater, sondern zu einer Ersatzrealität geworden, in die sich die Protagonistin zu flüchten versucht. Denn während sich die Situation im MEGA GYM immer weiter zuspitzt, erinnert sie sich gleichzeitig immer häufiger an Momente aus ihrer beruflichen Vergangenheit, die sie lieber vergessen möchte. Dabei bleibt die Protagonistin trotzdem eindimensional, denn über ihr Leben außerhalb eines Arbeitskontexts wird nichts preisgegeben.
Der Roman will offenbar keine Empathie für die Hauptfigur erzeugen, was ein legitimes literarisches Mittel ist. Doch "Gym" scheitert bereits daran, zumindest Interesse aufrechtzuerhalten. Denn die Protagonistin, die hier über knapp 200 Seiten begleitet wird, entzieht sich jeder Greifbarkeit. Sie ist weder tragisch noch faszinierend, sondern schlicht leer. Man kann darin eine kluge Reflexion über ein entleertes Selbst sehen – oder schlicht eine Figur, die nicht funktioniert. Ihre Motive bleiben unklar und das, obwohl der Roman ausschließlich in der ich-Perspektive geschrieben ist. Durch die gewählte Erzählperspektive bleiben auch die anderen Charaktere des Romans eindimensional. Sie sind eher Stereotypen als Menschen. Niemand hinterfragt das Lügenkonstrukt der Protagonistin. "Gym" lässt sich auch hier nicht als Gesellschaftskritik lesen, denn wer sich Stereotypen bedient, die eine gesellschaftliche Gruppe (Gym-Mitarbeiter:innen) naiv und dümmlich aussehen lassen, ist nicht kritisch, sondern diskriminierend.
In der jüngsten Gegenwartsliteratur werden unsympathische Protagonistinnen, die provozieren sollen, scheinbar im Überfluss genutzt. Allein in diesem Jahr wurden Romane wie "Geht so" von Beatriz Serrano oder "Nowhere Heart Land" von Emily Marie Lara veröffentlicht, die ebenso mit ihren Protagonistinnen schockieren möchten. Während beispielsweise in "Geht so" am Ende die Kritik an der Leistungsgesellschaft durch Überspitzung gelingt, misslingt dies bei "Gym", da hier alles von Beginn an künstlich konstruiert wirkt. Rosa ist ebenso eine grundsätzlich unsympathische Figur, mit der eine Identifizierung immer schwerer fällt, und trotzdem hat "Nowhere Heart Land" Momente, in denen man wie in einen Spiegel schaut. All das ist bei "Gym" nicht möglich. "Gym" möchte Kapitalismuskritik sein, ein feministisches Statement, ein ironisches Schauspiel. Doch all diese großen Themen werden lediglich angerissen und dann wieder fallen gelassen. Die Fitnesswelt dient als Projektionsfläche für alles und nichts – sie bleibt Bühne ohne Drama.
Wer ironische Selbstinszenierung und distanzierte, nicht-greifbare Figuren in Literatur mag, wird hier vielleicht fündig. Für mich war "Gym" leider ein Beispiel dafür, wie eine überspitzte Gesellschaftskritik an ihrer eigenen Überspitzung scheitert.