Gym

Intensiv

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
kascha Avatar

Von

Verena Keßler legt mit “Gym” die Messlatte wirklich hoch und schenkt uns einen intensiven Roman, der die Ästhetik und Dynamik eines Fitnessstudios zum Schauplatz einer tiefgreifenden Persönlichkeitskrise macht. Und das so realistisch, so nachvollziehbar, so nahbar, dass es einen beim Lesen manchmal fast den Atem nimmt, weil man sich - zumindest ging es mir so - ertappt fühlt, weil man irgendwann in seinem Leben auch mal nah dran war, zu sehr abzutauchen in die Tiefen der Selbstoptimierung - ggf. getriggert durch äußere Impulse.
Aber worum geht es eigentlich?
Die Erzählerin beginnt einen Neuanfang hinter der Theke des MEGA GYM, einem grell glänzenden Ort voller gespannter Körper, Spiegel und einem Chef, der sich als überzeugter Feminist sieht und auch so agiert. Doch die makellose Oberfläche bröckelt schnell, denn im Bewerbungsgespräch hat sie geflunkert: Sie behauptete, kürzlich Mutter geworden zu sein – eine Lüge, die ihr zunehmend im Nacken sitzt. Immer wieder wird sie nach Babyfotos gefragt, nach dem „Kleinen“, was den Druck erhöht. Als dann die muskulöse Bodybuilderin Vick auftaucht, verdichtet sich ihr Geflecht aus Fassade, Ehrgeiz und Selbsttäuschung noch stärker. Nach und nach wird klar, dass das Baby nur eines von mehreren Geheimnissen ist, und dass hinter der glänzenden Oberfläche eine Obsession lauert, die in zerstörerische Besessenheit führt. Was als selbstgewählter Neustart beginnt, entwickelt sich zu einem gefährlichen Spiel mit Kontrolle und Selbstbild. Die Protagonistin driftet immer mehr ab in die absolute Selbstzerstörung.
Der Roman zeigt so in aller Schärfe, wie die Leistungsgesellschaft und sinnbildlich hierfür - zumindest meines Erachtens - die Fitness-Subkultur funktionieren: Aus der Sehnsucht nach Selbstverbesserung wird Abhängigkeit, aus Proteinshakes und Muskeltraining wird die Inszenierung eines Körpers, der innere Leere kaschiert. Keßler legt den Finger in die Wunde aus dem Wechselspiel von Ehrgeiz, Scham und Aggression und entwirft ein Bild einer Frau, die zugleich stark und verletzlich ist. Ich empfand den Roman als absolut schonungslos,radikal ehrlich und gespickt mit großer Wut, die ich nachvollziehen konnte. Für mich ist es ein Buch, das Schönheitswahn und gesellschaftlichen Druck entlarvt und in eine wundervolle literarische Form gießt.
Stilistisch ist „Gym“ konzentriert und geschliffen, temporeich erzählt - was mir persönlich sehr gefällt - und doch transportiert der Text diese schwer zu ertragende, unterschwellige Beklemmung. Der Text entfaltet seine Wirkung in drei markanten Lebensphasen der Protagonistin und wirkt dadurch verdichtet wie eine lange, intensive Kurzgeschichte. Mit jedem Satz erzeugt Keßler Tempo, Spannung und emotionale Wucht. Zwar bleibt manches im Hintergrund unaufgeklärt, doch gerade diese Leerstellen verstärken den Sog und zugleich auch die Fremdheit, die der Text bewusst herstellt.
„Gym“ ist ein Roman über Fassade, Selbsterfindung und die zerstörerische Seite des Ehrgeizes innerhalb einer absoluten Leistungsgesellschaft. Verena Keßler zeichnet eine Figur, die anziehend und abstoßend zugleich wirkt, deren Motive verschwimmen, deren innere Abgründe jedoch unwiderstehlich fesseln. Es ist ein scharfkantiges, radikal ehrliches Buch, das sich von Beginn an festsetzt und bis zur letzten Seite nicht loslässt – beklemmend, ungewöhnlich und literarisch von großer Kraft.