Gym

Krasser Körperkult und Gesellschaftskritik

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✨ Rezension zu Gym von Verena Kessler, erschienen im Hanser Berlin Verlag

⚠️ Triggerwarnung: Das Buch thematisiert Körper- und Schönheitszwänge, Selbstoptimierung bis hin zur Selbstzerstörung, sexualisierte Kommentare, psychische Krisen sowie übergriffige Darstellungen weiblicher Körper.

📖 Inhalt (spoilerfrei): Im Zentrum von Gym steht eine Frau, die nach dem Verlust von Job und Beziehung im Fitnessstudio MEGA GYM anfängt. Ihr neuer Chef Ferhat, der sich als Feminist inszeniert, zögert zunächst, sie einzustellen, denn ihr untrainierter Körper entspricht nicht den Idealen, für die das Studio steht. Erst als sie behauptet, gerade ein Kind zur Welt gebracht zu haben, kippt die Situation, und er fühlt sich verpflichtet, ihr eine Chance zu geben. Auf dieser Notlüge gründet ihre neue Existenz, doch je länger sie im Gym arbeitet, desto schwerer fällt es ihr, das Lügenkonstrukt aufrechtzuerhalten. Inmitten der Welt aus Selbstoptimierung und Oberflächenästhetik wächst der Druck, bis alles eskaliert. Der Roman erzählt von Ehrgeiz, Obsession und der zerstörerischen Kehrseite gesellschaftlicher Erwartungen.

🖋️ Erzählstil: Kessler schreibt hemmungslos, mutig und provokant; ohne moralisches Schonprogramm. Besonders auffällig ist, wie sie mit Sprache arbeitet: Geräusche von Sportgeräten, das Schnaufen beim Training oder das metallische Klirren der Hanteln werden verschriftlicht und verleihen der Erzählung eine fast körperliche, unmittelbare Dimension. Dazwischen tauchen ironische Kommentare auf, die die Fitnesswelt entlarven und gleichzeitig den bissigen Ton des Romans prägen. Immer wieder stößt man auf die bekannten Motivationsslogans („No pain, no gain“, „The hardest part is going“, „Abs are made in the kitchen“), Phrasen, die jeder schon einmal gehört hat, werden hier so überpointiert wiederholt, dass sie wie Worthülsen wirken, die ihre Hohlheit entlarven. Der Ton ist durchzogen von Sarkasmus, so die Kommentare oder Benennungen ("Mega Gym" – allein der Name trieft schon vor Ironie). Sehr treffend ist auch der Bezug zu den sozialen Medien. Kessler spiegelt die zeitgenössische Fitness- und Ernährungskultur auf YouTube, Instagram und Co. mit erschreckender Genauigkeit: von Clickbait-Videos über Ernährungspläne bis hin zu Rabattcodes, mit denen Influencer:innen bedenkenlos und profitgierig um sich werfen. Diese Oberflächenästhetik wird so präzise wiedergegeben, dass sie zugleich hyperrealistisch und satirisch wirkt. Auch das Spiel mit den Zeiten ist kunstvoll eingesetzt: Der Roman steht überwiegend im Präteritum, was Distanz und Rückblick ermöglicht. Doch an entscheidenden Stellen,(etwa im Vorwort oder zum dramatischen Ende des zweiten Teils und im dritten Teil) bricht Kessler ins Präsens. Dadurch wird die Handlung schlagartig unmittelbarer, es verstärkt die Intensität und das Gefühl, dass die Protagonistin immer tiefer in eine Gegenwart hineinstürzt, der sie nicht mehr entkommt.

👥 Figuren: Die namenlose Protagonistin ist eine der größten Stärken dieses Romans. Dass sie keinen Namen trägt, macht sie universell; sie könnte jede Frau sein. Gleichzeitig ermöglicht es eine unmittelbare Identifikation: Man rutscht als Leserin direkt in ihre Perspektive, ohne Distanz. Sie ist rund und absolut gelungen gezeichnet: mutig, hemmungslos, moralisch entgrenzt. Mit ihrer Notlüge, frisch entbunden zu haben, führt sie alle um sich herum an der Nase herum. Diese Gewissenlosigkeit zeigt, wo sie in ihrem Leben steht: Sie ist verzweifelt, am Ende, ohne Rücksicht auf Konsequenzen, weil sie scheinbar das Gefühl hat, ohnehin schon alles verloren zu haben. Ihre Haltung ist schonungslos, kalt, oft gefühllos gegenüber ihrer Mitmenschen. Nur dort, wo Konkurrenz entsteht, erwacht ihr Interesse. Nach und nach verliert sie den Bezug zur Wirklichkeit, was sie gleichzeitig faszinierend und verstörend macht. Neben ihr treten weitere starke Frauenfiguren auf: Swetlana, die Trainerin, weiß genau, wie sie ihren Körper in den sozialen Medien inszenieren muss, und tritt als klischeehafte Sport-Influencerin mit Rabattcodes auf. Ihre Nonchalance verdeutlicht, dass sie die Regeln kennt und scheut sich nicht, das System für sich zu nutzen. Vick, eine Kundin des Gyms und Profi-Bodybuilderin, bringt fünfmal die Woche extreme Höchstleistungen. Trotzdem wird sie von Männern abwertend als „Tier“ bezeichnet oder mit einem Mann verglichen – ein Paradebeispiel für die Entwertung weiblicher Stärke. Hier zeigt sich die ganze Abgründigkeit männlicher Wahrnehmung im Roman: Frauenkörper werden permanent kommentiert, abgewertet oder sexualisiert, egal ob sie den gängigen Normen entsprechen oder nicht. Und genau da reiht sich auch die Figur Ferhats ein, der sich zwar als selbsternannter Feminist inszeniert, aber in Wahrheit patriarchale Strukturen ungebrochen fortführt. Er nimmt Raum ein, schmückt sich mit oberflächlicher Gleichstellungssprache und steht damit stellvertretend für eine Sorte Männer, die Anerkennung für ihren vermeintlichen Fortschritt wollen, während sie in Wahrheit patriarchale Strukturen stabilisieren. Er übt massiven Druck auf die Protagonistin (und damit stellvertretend auf alle Mütter) aus, nach der Schwangerschaft wieder „in Form“ zu kommen. Besonders perfide ist seine Fixierung auf den Beckenboden: Er deutet an, Frauen müssten ihn unbedingt trainieren, da sie sonst beim Sex nichts mehr spüren könnten; ein übergriffiger, entwürdigender Kommentar, der zeigt, wie stark weibliche Körper selbst unter dem Deckmantel vermeintlicher Fürsorge sexualisiert und normiert werden.

🗝️ Symbole: Das Gym fungiert als symbolischer Raum für Leistungsdruck und Selbstoptimierung. Was die Protagonistin zuvor in der durchgetakteten Arbeitswelt ausgelebt hat (Ehrgeiz, Kontrolle, das ständige Streben nach Anerkennung) überträgt sie nun auf ihren Körper. Im Gym bündeln sich Schönheitsideale, die längst losgelöst sind von Gesundheit oder Balance, und verwandeln sich in ein Ventil für ihren ungebremsten Ehrgeiz. Gleichzeitig sind die Fitness-Slogans und Körperideale selbst Symbole einer Gesellschaft, die Transformation verspricht, aber im Kern Anpassung und Unterdrückung verlangt. Besonders eindringlich ist die wiederkehrende Erwähnung von Basilikum (zunächst als Duftkerze auf der Damentoilette, später, im letzten Teil, als Pflanze, die neu angepflanzt wird). Basilikum hat in vielen Kulturen eine symbolische Bedeutung: Es gilt als Pflanze der Kraft, des Neuanfangs und des Glücks, zugleich als Heilmittel und Schutz vor bösen Geistern. Im Roman lässt sich das doppelt lesen: Einerseits sucht die Protagonistin in ihrem neuen Job im Mega Gym nach Heilung und einem Neuanfang. Andererseits verlischt gegen Ende die Basilikum-Duftkerze, was sich mit der Vorstellung deckt, dass der Schutz vor „bösen Geistern“ aufgehoben die Situation eskaliert. Im letzten Teil wird frischer Basilikum gepflanzt, der schnell wächst und gedeiht, was wiederum symbolisch dafür stehen könnte, dass ein Neuanfang und Heilung dennoch möglich sein könnten.

💡 Fazit: Gym hat mich an Han Kangs Die Vegetarierin erinnert; nur dass es hier eine noch konsequentere, authentischere und beinahe brutalere feministische Wut gibt. Wie bei Han Kang richtet sich die Protagonistin in gewisser Weise gegen ihren eigenen Körper, was in einer vergleichbaren Konsequenz endet. Der Roman ist tabulos, realistisch, hemmungslos. Zwar wird das Buch oft als „witzig“ oder „amüsant“ beschrieben, doch ich habe es ganz anders erlebt: Für mich sind die Sprüche und Pointen eher erschreckend realistisch, da sie entlarven, in was für einer irrsinnigen Gesellschaft wir leben. Für mich war "Gym" ein zutiefst feministisches Buch, das nicht mit erhobenem Zeigefinger arbeitet, sondern die Realität abbildet, so nahbar und scharf, dass es weh tut. Ich erlebe auch heute noch regelmäßig im Fitnessstudio, wie Frauen als Lustobjekte betrachtet oder von Männern bewertet werden. Für mich ist das Thema daher keine Absurdität, sondern bittere Realität und genau das fängt Kessler perfekt ein.

5|5⭐️