Gym

Lügen, Pump & Proteinshakes

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Wer glaubt, dass ein Fitnessstudio nur der Ort für Bizeps, Burpees und Beinpresse ist, der irrt gewaltig. Verena Keßler zeigt in Gym, dass hinter glänzenden Spiegeln und Eiweißshakes nicht nur Muckis, sondern auch ganze Lebenslügen aufgebaut werden können – und das in einem Ton, der so frisch ist wie der Geruch von neu geöffnetem Magnesium-Pulver.
Die namenlose Protagonistin stolpert nicht einfach in das MEGA GYM, sie mogelt sich hinein – mit einer Notlüge, die so klein klingt wie ein Satz Sit-ups und sich dann doch zu einem Marathon aus Täuschungen auswächst: Angeblich hat sie gerade ein Kind bekommen. Applaus, Mitleid, Respekt – alles da. Nur: Babyfotos sind schwer zu liefern, wenn es „den Kleinen“ gar nicht gibt. Hier liegt die große Raffinesse des Romans: Keßler macht aus einer spontanen Ausrede einen dramaturgischen Deadlift, bei dem wir Leserinnen und Leser mit jeder Seite tiefer in die Gedankenwelt einer Erzählerin gezogen werden, die selbst nicht mehr weiß, wo die Wahrheit endet und die Pose beginnt.
Besonders stark gelingt es Keßler, den Fitnesskult als Bühne für Selbstoptimierung, Sehnsucht nach Anerkennung und die Gefahr der Obsession zu inszenieren. Zwischen legeren Flirts am Tresen, Proteinshake-Smalltalk und dem Stolz eines feministischen Chefs entfaltet sich eine Geschichte, die mal komisch, mal beklemmend wirkt – ein Wechselspiel wie zwischen Aufwärmübung und Maximalgewicht.
Und dann ist da Vick: die Bodybuilderin, die wie eine lebendige Hantel aus Stahl den Ton im Studio und in der Erzählung verschiebt. Mit ihrem Auftreten kippt das Buch vom lockeren Aufwärmen ins Hochintensive – kein leichtes Pumpen mehr, sondern eiserner Drill. Ab hier wird klar: Die Notlüge war nur der erste Satz im Trainingsplan einer Frau, die sich selbst neu erfinden will – koste es, was es wolle.
Keßlers Sprache ist dabei so pointiert, dass man beim Lesen fast glaubt, den Schweiß tropfen zu hören. Humor und Härte, Satire und Tragik – Gym jongliert das alles mit der Leichtigkeit eines Fitnessgurus, der noch beim Plank über Gleichstellung diskutiert.
Am Ende bleibt ein Fazit, das so simpel wie schwer ist: Ehrlichkeit wiegt mehr als jede Langhantel. Gym ist ein Roman, der unterhält, erschüttert, zum Schmunzeln bringt und gleichzeitig mitten ins Herz der Selbstoptimierungsgesellschaft zielt. Ein echtes Jahreshighlight – mit Muskelkater-Garantie fürs Hirn.