Gym

wahnhafter Ehrgeiz in auf Optimierung getrimmter Gesellschaft

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reiselust Avatar

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Die namenlose 36 Jahre alte Ich-Erzählerin war bis vor kurzem gut bezahlte Angestellte in einem aufstrebenden Unternehmen. Fast auf der letzten Stufe der Karriereleiter angelangt, wird ihr gekündigt. Ihr nächster Job ist Mitarbeiterin in einem Fitnesscenter namens Mega Gym. Hier serviert sie den Trainierenden an der Theke Drinks, hält die chromblitzenden Flächen sauber, räumt die Geschirrspülmaschine ein und aus.

Eine völlig andere als die intellektuelle Bürojobwelt, in der sie zuvor jahrelang gearbeitet hat. Im Gym zählt nur der Körper, die Fitness. Hier kann sie sicher sein, dass niemand aus ihrem vorigen Leben auf sie trifft. Ihr äußeres Erscheinungsbild paßt nicht ganz zur körpergestylten Fitnesswelt, weshalb sie, um den Job zu bekommen, lügt mit der Behauptung, vor kurzem ein Kind geboren zu haben. Ihr neuer Chef und Inhaber des Gyms bezeichnet sich selbst als Feminist und stellt sie ein.

Beide Branchen scheinen vom Leistungsprinzip, vom ewigen Kampf nach Optimierung, vom immer weiter nach Oben, geprägt zu sein. In Büro bloß nicht krank werden, um nichts zu verpassen, andere bloß nicht vorbeiziehen lassen. Im Gym muß man sportlich immer fitter und schlanker werden, Muskel müssen definiert werden, kein Gramm Fett zu viel, auch mit Unterstützung von in Drinks angebotenem Eiweißpulver.

So transformiert sich auch der Körper der Protagonistin, denn ihr Chef entwickelt einen Fitnessplan für sie, den sie in den Pausen und nach der Arbeit ehrgeizig befolgt. Und das als Alleinerziehende mit Säugling ! Was für eine Glück, dass ihre eigene Mutter sie so tatkräftig unterstützt ! Das ist die Lüge, die die Ich-Erzählerin mühsam aufrecht erhält. Im Lauf des Romans fragt sich der Leser allerdings, ob es tatsächlich "nur" die Leistungsgesellschaft ist, die die Protagonistin antreibt oder in erster Linie ihr eigener, fast wahnhafter Ehrgeiz.

Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Sie ist, so wird immer klarer, eine überhebliche, hochmütige Lügnerin, keine Sympathieträgerin. Mit der "Babylüge" erzeugt die Autorin eine gewisse Spannung. Kann diese Lüge durchgehalten werden ? Mehr noch interessiert jedoch die Auflösung der Frage, warum die Protagonistin, die doch so überaus erfolgreich war in ihrem vorigen Job, entlassen wurde. Hiervon erfährt der Leser in eingestreuten Rückblenden. Ihr Charakter entblättert sich dabei immer mehr in Richtung Psychothriller. Das ist gut gemachte und witzig geschriebene Unterhaltung, schärft aber auch den Blick des Lesers auf die heutige Optimierungsgesellschaft.

Der Sprachstil ist durch die Sicht der Ich-Erzählerin auf ihre Umgebung umgangssprachlich mit ironischem Unterton. Sie taxiert ihre Mitmenschen, etwa Vorgesetzte, Kollegen, ihren ehemaligen Lebensgefährten abschätzig, kalt, fast unbarmherzig. Allein eine Bodybuilderin, die ihren Körper zur absoluten Perfektion gestylt hat, kann als Vorbild bestehen. Die Atmosphäre im Gym wird herrlich bildhaft wiedergegeben. Schweiß, chromblitzende Geräte, Spiegel überall, das Ächzen und Stöhnen derTrainierenden, Bum, Bum Bum, Bam-Bässe aus den Lautsprechern, hämmernde Anfeuerungen der Gruppentrainerin.

Der Roman hat mir gefallen. Nur der Blick auf die Prägungen der Ich-Erzählerin aus deren Kindheit und Elternhaus, der sich gegen Ende immer mehr herauskristallisiert und m. E. heutzutage in keinem Roman mehr fehlen darf, schmälerte mein Lesevergnügen.

Ich vergebe 4 Sterne.