Macht nachdenklich

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kascha Avatar

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Susanne Gregor beleuchtet in ihrem Roman “Halbe Leben” eindringlich die schwierige Situation von ausländischen Pflegekräften und die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, die diese bedingen. Im Mittelpunkt steht Paulína, eine slowakische Pflegekraft, die nicht nur Klaras Mutter betreut, sondern durch ihre Arbeit auch Klaras Karriere und das entspannte Leben ihrer gesamten Familie ermöglicht. Während Paulína im Haus von Klara pflegt, betreut, putzt, kocht und sich aufopfert, wachsen ihre eigenen Kinder in der fernen Heimat ohne sie auf – betreut von der Schwiegermutter.

Der Roman zeigt eindrucksvoll die strukturelle Ungleichheit, die in diesem System verankert ist: Frauen wie Paulína tragen die Last unbezahlter oder schlecht bezahlter Care-Arbeit, während andere von ihrem Einsatz profitieren. Gregor zeichnet dabei nicht nur ein Porträt von Klassenunterschieden, sondern rückt auch die intersektionalen Herausforderungen in den Fokus, die Frauen in patriarchalischen und wirtschaftlich ungleichen Systemen erfahren. Paulínas Abhängigkeit von ihrer Anstellung und ihre emotionale Isolation verdeutlichen die oft unsichtbare und immense Belastung, die migrantische Pflegekräfte tragen.

Die Figuren in Halbe Leben sind fein und vielschichtig gezeichnet. Paulína, stark und gleichzeitig sensibel und verletzlich, die zwischen der Verantwortung für ihre zwei Söhne und den Erwartungen ihrer Arbeitgeber hin- und hergerissen ist. Klara hingegen steht für die (weißen) Privilegien eines Systems, das auf Ungleichheit basiert und diese immer wieder reproduziert, ohne dass sie sich ihrer eigenen Rolle darin voll bewusst ist. Diese Kontraste machen die Figuren lebendig, ziehen die Lesenden tief in die Geschichte und regen dazu an, die verschiedenen Perspektiven zu fühlen und zu hinterfragen.

Immer wieder kommt die Frage nach der Beziehung der beiden Frauen zueinander auf, die doch so eng zusammenleben und gleichzeitig so weit voneinander entfernt sind. Grenzüberschreitungen, Machtgefälle, Freund(schaft)lichkeit - es ist eine stetige Ambivalenz, innerhalb der sich die beiden Frauen - jede für sich - unsicher bewegen.

Mit klarer Sprache und großem Einfühlungsvermögen legt Susanne Gregor die Ausbeutung weiblicher Pflegekräfte und die zugrunde liegenden patriarchalischen Strukturen offen. Halbe Leben ist ein aufrüttelnder Roman, der auf die Notwendigkeit eines gerechteren Systems hinweist – nicht nur für die Pflegekräfte, sondern auch für eine Gesellschaft, die auf diese Arbeit offenkundig so dringend angewiesen ist.

Dieses Buch ist empfehlenswert für alle, die sich für gesellschaftskritische Literatur interessieren und einen tiefen Einblick in die Herausforderungen und Ungerechtigkeiten von Care-Arbeit erhalten möchten. Es richtet sich an Leserinnen und Leser, die offen für eine Reflexion über Machtverhältnisse, soziale Ungleichheit und die oft übersehene Arbeit von Frauen sind. Besonders von migrantischen Frauen, die für ihre Tätigkeit in die Haushalte der zu pflegenden Personen ziehen und damit eine ganz andere Dimension von Care-Arbeit leisten.