Psychologisch stimmige Frauenporträts
Die Geschichte beginnt äußerst dramatisch. Gleich auf der ersten Seite stürzt bei einer Wanderung eine der Hauptfiguren in die Tiefe. Und der Leser fragt sich, wie es dazu kommen konnte.
Danach Rückblende: ein Jahr zuvor.
Klara, eine Frau Ende Dreißig, arbeitet als Architektin in einem renommierten Architekturbüro. Die Arbeit macht ihr Spaß und wird sehr gut bezahlt. Das ist auch notwendig, denn ihr Mann Jakob verdient als Photograph kaum etwas. Um die zehnjährige Ada kümmert sich Irene, Klaras Mutter. Das bisher funktionierende Gefüge der Familie bricht zusammen, als Irene einen Schlaganfall erleidet. Sie kann nicht mehr für sich selbst sorgen und braucht rund um die Uhr Betreuung. Klara kann das unmöglich neben ihrem arbeitsintensiven Job leisten. In ihrer Not wendet sie sich an eine Agentur für Pflegekräfte. Und nun kommt Paulina ins Haus, die sich die Arbeit im zweiwöchigen Rhythmus mit Radek teilt. Alle sind glücklich. Irene versteht sich gut mit ihrer Betreuerin; Klara kann sich wieder mit voller Kraft ihrer Arbeit widmen. Denn Paulina macht mehr als nötig, kocht für die ganze Familie, führt den Hund aus und hilft bei Festen. Dafür gibt es dann schon mal ein paar Scheine mehr.
Und die kann Paulina gut gebrauchen. Denn seit der Scheidung von ihrem Mann ist sie allein verantwortlich für die beiden halbwüchsigen Söhne. Ihr Gehalt als Krankenschwester hat hinten und vorne nicht gereicht. Einzig um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, hat Paulina diese Arbeit angenommen. Nur deshalb pendelt sie alle zwei Wochen zwischen der Kleinstadt in Slowenien und dem oberösterreichischen Kremstal hin und her. Die Söhne werden während ihrer Abwesenheit von der Schwiegermutter betreut.
Aber die Situation ist für Paulina natürlich alles andere als leicht. Ständig plagt sie das schlechte Gewissen, nicht für ihre Söhne da zu sein. Auch die leiden naturgemäß unter der Trennung. Und Paulina fragt sich, ob es die richtige Entscheidung war, sich für eine fremde Familie aufzuopfern, während ihre eigene auf der Strecke bleibt.
Susanne Gregor greift hier ein Thema auf, das in unserer alternden Gesellschaft immer mehr Menschen betrifft. Wir holen uns Arbeitskräfte aus ärmeren Ländern, die uns bei der Pflege und Betreuung unterstützen. Doch was bedeutet das für diejenigen, in der Regel sind es Frauen, die dafür ihre eigene Familie vernachlässigen müssen? Und welche Folgen hat das für die zurückgelassenen Kinder? Und was heißt das für die Infrastruktur eines Landes, wenn so viele Arbeitskräfte abwandern?
Die Autorin beleuchtet aber nicht nur diesen Aspekt, sondern geht auch auf das komplizierte Verhältnis zwischen Klara und Paulina ein. Klara ist freundlich und verständnisvoll, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Die Extradienste, die Paulina anfangs freiwillig übernommen hat, werden zwar honoriert, aber auch immer mehr eingefordert. Dabei übersieht Klara völlig, dass auch Paulina ein eigenes Leben hat und unter ganz anderen Zwängen steht als sie selbst.
Aber Klara führt ebenso ein „ halbes Leben“, wenn auch ein privilegierteres. Ihren Erfolg im Beruf bezahlt sie mit einem enormen Arbeitspensum und dem Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein. Denn ihr ist nicht entgangen, dass ihre Tochter Ada ein weitaus besseres Verhältnis zur Oma hat als zu ihr.
Die dritte spannende Frauenfigur ist Irene. Sie hat ihre Tochter allein großgezogen, sich als Gymnasiallehrerin ihren Unterhalt verdient und legt auch als pflegebedürftige Frau Wert auf Selbstbestimmung und Würde.
Die Männer im Roman spielen eine eher unrühmliche Nebenrolle. Jakob ist zwar lieb und nett, aber keine wirkliche Stütze. Und Paulinas Mann entzieht sich gleich der Verantwortung und gefällt sich darin, seiner Ex- Frau Vorwürfe zu machen.
Die Situation im Roman spitzt sich immer mehr zu und eskaliert auf der eingangs beschriebenen Wanderung. Aber Susanne Gregor hat keinen Krimi geschrieben.
Stattdessen ist ihr ein äußerst feinfühliger, psychologisch stimmiger Roman gelungen. Sie erzählt wechselweise aus Klaras und Paulinas Perspektive. In vielen kleinen Alltagsszenen werden die Verschiebungen im Beziehungsgefüge deutlich. Es sind unterschiedliche Lebenswelten, die hier aufeinanderstoßen, wobei von vornherein ein Ungleichgewicht besteht. Verständnis kann man für beide Frauen aufbringen, wobei das größere Mitgefühl Paulina gilt.
Susanne Gregor, in der Slowakei geboren, seit ihrem neunten Lebensjahr in Österreich heimisch, hat mit diesem Roman endgültig bewiesen, dass sie zu den interessantesten Autorinnen der österreichischen Gegenwartsliteratur gehört.