Zwei unterschiedliche Frauenleben psychologisch ausgefeilt

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Im vierten Monat schwanger stürzt die beruflich äußerst erfolgreiche Klara bei einer Wanderung in den Tod. Begleitet wurde sie nur von der Pflegekraft Paulina, die die Notfallrettung erst mit großer Verzögerung informiert und insgesamt extrem verwirrt erscheint. Als Leser gewinnt man den Eindruck, dass Paulina etwas mit Klaras Tod zu tun haben könnte. „Es liegt kein Motiv vor, man lässt den Tod als Unfall gelten. Niemand zweifelt an dieser Version der Geschichte.“ (S. 11) Mit diesen Worten endet der kurze Prolog.

Paulina war seit einem Jahr bei der Familie angestellt, um Klaras Mutter Irene zu pflegen, die nach einem Schlaganfall ihre Selbständigkeit verlor und nun die kleine Einliegerwohnung im Obergeschoss bewohnt. Paulina kommt aus der Slowakei, sie teilt sich die Arbeit mit ihrem Kollegen Radek im 14-tägigen Wechsel. Das heißt, sie ist zwei Wochen bei Irenes Familie in Österreich, anschließend denselben Zeitraum bei ihrer eigenen in der Heimat. Paulinas Ziel ist es, möglichst schnell Geld zu verdienen, um eine größere Wohnung mit ihren beiden Söhnen beziehen zu können, dem 16-jährigen Riso und dem deutlich jüngeren Andrej. Deren Vater Martin hat die Familie für eine andere Frau verlassen. Er taucht nur unregelmäßig auf, verteilt Geschenke und Vorwürfe und verschwindet wieder. „Am Wochenende holt er die Jungs zwar manchmal für einen Ausflug ab, aber sie sind Besucher in seinem Leben und keine Dauergäste.“ (S. 77) Allerdings ist seine Mutter diejenige, die Riso und Andrej während der Abwesenheit Paulinas betreut.

Klaras Leben ist ein völlig anderes. Sie geht vollkommen in ihrem Beruf auf, leistet zahlreiche Überstunden und hat Geld im Überfluss. Ihr Mann Jakob ist ein netter, aber unzuverlässiger Fotokünstler. Die gemeinsame Tochter Ada wurde mehr oder weniger von Irene aufgezogen, die nun ja nicht mehr zur Verfügung steht. Klara ist permanent gestresst, ihr Chef kontaktiert sie auch spätabends oder am Wochenende, um Projekte voranzutreiben; sie muss allzeit bereit sein. So verwundert es nicht, dass Pflegekraft Paulina immer stärker in den Familienalltag einbezogen wird. Zunächst ist es nur das Mittagessen, dass sie auch für Klara, Jakob und Ada zubereitet, später übernimmt sie die Sauberkeit im ganzen Haus, hilft bei Partys, führt den neu angeschafften Hund regelmäßig aus und anderes mehr. Für ihre Dienste wird Paulina sehr geschätzt, Klara belohnt sie großzügig. Allerdings haben die Extraleistungen auch zur Folge, dass Paulinas eigene Familie darunter leidet. Paulina belasten diese Gewissenskonflikte zunehmend, sie wird zerrieben zwischen den beiden Parteien, die ihre Aufmerksamkeit brauchen oder wollen. Ungute Gefühle keimen auf, zumal ihr die Söhne zu entgleiten drohen.

Der Roman bereitet diese zwei unterschiedlichen Frauenleben sehr anschaulich auf. Erzählt wird aus den Perspektiven der Beteiligten, die fast nahtlos ineinander übergehen. Der Stil ist nüchtern, teilweise distanziert und gleichzeitig intensiv. Er wartet regelmäßig mit Sätzen auf, die ins Mark gehen, die Gefühle auf den Punkt bringen. Dadurch werden die zugrundeliegenden Emotionen sehr deutlich. Die einzelnen Charaktere treten immer detaillierter hervor. Niemand ist im engen Sinn böse oder gemein. Es sind die Umstände, die Egoismen oder Übergriffigkeiten hervorbringen. Dabei zeigt die Autorin großes Verständnis für jede ihrer Figuren. Herausheben möchte ich auch die Charakterisierung von Mutter Irene, deren instabiler Geisteszustand hervorragend in Worte gefasst wird.

Geschildert werden viele kleine Episoden, jede für sich nachvollziehbar und verständlich, die in ihrer Summe aber zur Belastung werden. Paulina leidet im Stillen, blickt manchmal zurück, zeigt dem Leser Einblicke in ihre Vergangenheit. Ihre Sorgen, ihre Söhne interessieren in Österreich niemanden. Bezahlt wird sie nur für ihre Arbeitskraft. Trotz all dieser Zerrissenheit traut man Paulina aber an keiner Stelle einen Mord zu – oder doch? Bewusst streut die Autorin Zweifel, indem sie unauffällig und geschickt kleine Hinweise auf Paulinas Untiefen gibt.

Dieser im Blocksatz ohne jegliche wörtliche Rede geschriebene Text übt starke Faszination aus. Er bewegt sich zunächst langsam vorwärts, um immer mehr Fahrt aufzunehmen. Dies allerdings nicht im Sinn von Handlungsgetriebenheit, sondern im Sinn von psychologischer Zuspitzung. Natürlich möchte man im Kern wissen, was letztlich auf der Wanderung passiert ist. Die Auflösung steht aber keinesfalls im Mittelpunkt dieses psychologisch dichten und fein gewebten Romans.

Mit Paulina und Klara treffen zwei stark kontrastierende Frauenleben aufeinander, die nur wenige Berührungspunkte haben. Es gelingt Susanne Gregor hervorragend, uns die eine wie die andere nahe zu bringen, ohne schwarz-weiß Denken oder Klischees zu bedienen. Dass die Sympathien des Lesers nicht gleichmäßig verteilt werden, liegt in der Natur dieser Geschichte, die ich allen Freunden psychologisch dicht gewebter Familienromane ans Herz legen möchte.

Große Leseempfehlung!