Einfühlsam geschilderter Mutter-Tochter-Roman in schöner Kulisse

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christian1977 Avatar

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Bibliothekarin Annett glaubt, ihren Ohren nicht zu trauen: Ihre Tochter Linn, die ein so erfolgreiches Studium absolviert und vermeintlich den Job gefunden hat, der genau zu ihr passt, hat einen Zusammenbruch erlitten, während sie in einem Hotel einen Vortrag halten sollte. Um sich zu erholen, zieht die junge Berlinerin für eine Woche wieder zuhause ein: auf der Halbinsel am Wattenmeer mit gerade einmal 1.300 Einwohnerinnen. Das Haus weckt bei Linn Erinnerungen an ihre Kindheit und den viel zu früh verstorbenen Vater. Sie merkt, dass sie ihr Leben nicht so weiterführen möchte wie bisher. Wie geht eine Mutter damit um, wenn sie erkennt, dass die Tochter ausgebrannt ist und nicht mehr alleine wohnen möchte? Und wie ändert sich dadurch Annetts Leben selbst? Darüber und über viel mehr schreibt Kristine Bilkau in ihrem neuen Roman "Halbinsel", erschienen bei Luchterhand, der jüngst für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde.

Genau wie im Vorgänger "Nebenan" setzt Bilkau in "Halbinsel" auf eine ruhige und schnörkellose Sprache, die sich vor allem mit der Innenschau der Figuren befasst. Ich-Erzählerin Annett ist zu Beginn des Romans eine einsame, recht antriebslose Endvierzigerin, die gar nicht so recht weiß, wie sie mit der neuen Zweisamkeit mit ihrer Tochter umzugehen hat. Schließlich wollte sie immer nur das Beste für Linn und nun scheint diese sich mit einem Aushilfsjob in der Bäckerei zufriedenzugeben und kann das mütterliche Nest auch nicht mehr so schnell verlassen wie geplant. Erst nach und nach kommen sich die beiden näher, was Kristine Bilkau einfühlsam und unprätentiös in Szene setzt. Eine große Rolle für Annetts Entwicklung spielen auch die jungen Nachbarinnen, die für sie mit zunehmender Dauer einen immer wichtigeren Einfluss darstellen. Zu Levin entwickelt sie sogar mehr als freundschaftliche Kontakte, die Bilkau mit großer Sensibilität verfolgt.

Zu der insgesamt recht melancholischen Stimmung des Buches trägt natürlich auch das Setting bei. Das Wattenmeer, das verhältnismäßig spät seinen ersten Auftritt hat, zieht die Leserinnen unmittelbar hinein in diese norddeutsche Landschaft zwischen Kargheit und Schönheit. Bilkau verbindet es auf gelungene und unaufdringliche Weise mit literarischen Bezügen wie Theodor Storms "Schimmelreiter" oder Gedichten über die im Mittelalter versunkene Stadt Rungholt. Diese Schilderungen der Natur und die Ereignisse, die Linn und Annett bei ihren Wattwanderungen erleben, sind zweifelsohne die sprachlichen Höhepunkte von "Halbinsel".

Anders als der von Beginn an präsente Vorgänger "Nebenan" braucht "Halbinsel" auf seinen 220 Seiten allerdings eine Weile, um seine Stärken ausspielen zu können. Ein wenig träge und handlungsarm fließen die Geschehnisse um Annett und Linn im ersten Drittel dahin. Doch fast unmerklich gelingt es Kristine Bilkau irgendwann, die Leserschaft so von ihren Figuren einzunehmen, dass gar nicht mehr viel passieren muss, um ihnen mit Interesse und Empathie zu folgen.

Zudem vereint "Halbinsel" ohnehin viel mehr Themen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Ob Klimawandel, Trauerbewältigung, die Teilhabe an einer Leistungsgesellschaft oder das wechselvolle Geben und Nehmen einer Mutter-Tochter-Beziehung: Kristine Bilkau schafft es, inhaltliche Schwerpunkte zu setzen, ohne dabei den Zeigefinger zu erheben. Dies macht aus dem Buch einen klugen und lesenswerten Roman, dem ich eine breite Leserschaft wünsche.