Coming-of-Age ist nicht gleich Coming-of-Age.

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"Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt."

Vor dem 15-jährigen Sam liegen im Sommer 1985 viele Wochen Langeweile und Einsamkeit. Wirkliche Freunde, mit denen er die Ferien verbringen könnte, hat er nicht, zuhause ist aufgrund der Krankheit der Mutter und der Schweigsamkeit des Vaters Land unter. Der Job im kommunalen Kino ist die Rettung, denn vom ersten Tag an wird für einen magischen Sommer lang alles auf den Kopf gestellt.

Coming-of-Age ist nun wirklich kein Genre, das gewöhnlicherweise mit großen Überraschungen punktet. Ein junger Held oder eine Heldin muss irgendeine Art von Schule durchlaufen und geht daraus als Mann/Frau hervor. Wells nimmt dieses Schema gekonnt auf die Schippe, als er seinen Protagonisten in seinem eigenen Coming-of-Age-Roman über Coming-of-Age-Romane nachdenken und Schulaufgaben darüber lösen lässt. Und genau mit diesem Wissen über das eigene Schaffen präsentiert Wells hier einen wunderbaren Roman dieses Genres, der mich mitgerissen und fortgeschwemmt hat in diese Kleinstadt mitten in Missouri.

In Sams Leben passieren in diesem Sommer so viele Dinge gleichzeitig, meisterhaft zusammengefasst vom fesselnden ersten Satz: "In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb." Man ist als Leserin also schon "vorgewarnt", was da alles kommt, aber die Einfühlsamkeit, mit der Wells diese Geschehnisse schildert, ist beeindruckend. Sam steht permanent zwischen den Stühlen: Einerseits will er an der Seite seiner todkranken Mutter sein, keinen Augenblick mit ihr verpassen; andererseits hat er das erste Mal in seinem Leben Freunde, die ihn zu Abenteuern und Späßen, Partys und chilligen Abenden am See mitnehmen. Hätte er sich das entgehen lassen, dann wäre er vermutlich für immer in seiner Unsicherheit und Angst gefangen geblieben; nur mit diesen drei Menschen konnte er erwachsen werden. Die Trauer im die Mutter ist dennoch omnipräsent und trägt natürlich zu dieser Reifung bei. Aber sie wäre so oder so gekommen, und das Netz aus Freundschaft und Liebe fängt ihn auf, wie es ohne seine Erlebnisse mit den drei Freunden nicht möglich gewesen wäre.

Sams Freunde zeichnet Wells mit genauso viel Tiefe und Charme wie seinen Protagonisten. Jeder der drei hat ganz unterschiedliche Ambitionen, für sie brechen mit dem College nach dem Sommer völlig neue Zeiten an, von denen Sam noch zwei Jahre entfernt ist. Es geht in Wells Roman um das Hier und Jetzt und gleichzeitig um die Zukunft, um die Heimatverbundenheit und gleichzeitig um die Loslösung davon, um Freunde und Familie, und v.a. geht es darum, wie junge Menschen das alles verarbeiten und sich ihren Platz in dieser Welt erstreiten.

Der Roman im Roman, das große Gedicht "Hard Land", begleitet Sam durch diese Zeit, und am Ende kommt für Sam auch alles genauso, wie es im Gedicht beschrieben steht. Eine schöne, literarisch gewiefte Parallele, die dem Roman nochmals Tiefgang verleiht. Und immer schwingt die Message mit: Du kannst über dich hinauswachsen, wenn du dich nur traust, und wenn du dich einmal etwas Verrücktes getraut hast, macht dir der Rest keine Angst mehr.

Mit Wells neuestem Roman können wir uns alle in unsere Jugend und in den Sommer unseres Lebens zurückversetzen lassen. Mühelos und schwungvoll zeigt er, wie nahe Freude und Trauer manchmal beisammen liegen, und wie es das menschliche Herz schafft, beides zu verarbeiten. Ein wunderbarer Roman, der sich für jeden und in jeder Lebenslage eignet.