Ein fesselnder, bedrohlicher Roman - unter Vorbehalt

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nessabo Avatar

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[Disclaimer: Die Autorin verpasst es meiner Meinung nach, die von Tradwifes/völkischem Denken ausgehende Gefahr klar abzubilden. Progressive Personen können dies wahrscheinlich für sich selbst weiterdenken, aber Lühmann wird einer wichtigen Verantwortung hier nicht gerecht. Entsprechend sorgsam sollte das Buch besprochen werden.]

Ich fand den Ansatz eines Romans über die Dynamiken von Tradwifes, konkret auch auf Social Media, extrem spannend und mehr als zeitgemäß. Und ich bin überwiegend positiv überwältigt aus dem Roman gegangen, habe dann aber ein wenig zur Autorin recherchiert und weiß nicht mehr so recht, wie ich das Buch einordnen soll.

Erst einmal aber zum Buch: Hannah Lühmann kann zweifelsohne schreiben! Das Buch umfasst gerade einmal 170 Seiten und ist von einer solchen Dichte, dass es seinen Sog am besten entfalten kann, wenn es möglichst am Stück gelesen wird. Lühmanns Schreibstil lässt sich wohl am besten als immersiv bezeichnen, je weiter ich gelesen habe, desto größer wurde mein Gefühl von Beklemmung. Es liegt stetig ein Gefühl von Bedrohung in der Luft, weshalb ich auch nicht wirklich aufhören konnte zu lesen.

Die Autorin setzt eine Protagonistin in den Mittelpunkt der Handlung, die ich als irgendwie unpolitisch bezeichnen würde. Und das meine ich überhaupt nicht positiv (diese Einstellung können wir uns in einer Demokratie schlicht nicht leisten), ich finde das Fallbeispiel aber enorm spannend. Jana ist mit gewissen Dingen in ihrem Leben unzufrieden: die Beziehung zu Noah läuft nicht mehr so richtig, nun ist sie mit ihrem dritten Kind schwanger und fühlt sich irgendwie verloren. Die Nachrichten zu Attentaten und gewaltvollen Ausschreitungen in der Stadt helfen dabei auch überhaupt nicht weiter.

In dieser Situation, kurz nach dem Umzug des Paares auf’s Land, trifft sie Karolin, die ihr Leben als Fünffach-Mutter scheinbar völlig unter Kontrolle hat. Sehr gut abgebildet fand ich die Einflechtungen völkischen Gedankenguts („Urlaub in der Heimat“, „Frau ordnet sich dem Mann unter“, Kleidung …) und die Einblicke in die Dynamik von Algorithmen. Hier auf einen Link im Telegram-Kanal geklickt, dort ein neues fragwürdiges Profil empfohlen bekommen. Diese Hinweise innerhalb des Textes sind extrem subtil und gehen bei längeren Lesepausen ziemlich sicher ebenso verloren wie die Ambivalenz der Figuren. Während die neuen Freundinnen auf dem Dorf zunehmend deutlich mit der #noAfD sympathisieren, haben sie als Teil der wohlhabenden Mittelschicht bspw. kein Problem mit dem georgischen AuPair. Diese Doppelmoral fand ich fein herausgearbeitet.

Das Ende war mir persönlich zu abgedreht und es fügte sich nicht organisch in den vorherigen Stil ein. Ich habe regelrecht mit angehaltenem Atem auf die Auflösung (und Konsequenzen!) gewartet, wurde tendenziell aber eher enttäuscht. Nichtsdestotrotz fand ich die Themen des Romans vielfältig, packend und gut geschrieben. Die Autorin bleibt dabei oberflächlich, ja. Eine klare Einordnung gibt es nicht wirklich, weil die Protagonistin manche Dinge zwar hinterfragt, aber eben auch nicht wirklich in ihrer Tiefe reflektiert. Mir, als dahingehend sehr sensibilisierter Person, genügt es dennoch, weil ich die Gefahr aus genau dieser scheinbaren Harmlosigkeit herauslese.

Doch ich verstehe sehr gut, was daran kritisiert wird. Die Autorin schreibt etliche, teils gewaltvolle Andeutungen in ihren Text hinein, ohne sich dazu zu positionieren oder sie auch nur aufzulösen. Die Interpretation bleibt den Lesenden überlassen. Und so sehr ich das literarisch auch gut und wichtig finde, ist das bei diesem Thema in der aktuellen Zeit einfach nicht mehr genug. Die einzig dagegenhaltende Figur ist Noah und der kommt als irgendwie abwesender Vater nicht sonderlich gut weg. Alles, was sonst so an eventuellem linken Aktivismus stattfindet, wird maximal angedeutet und versandet in der Bedeutungslosigkeit.
Außerdem habe ich eigenartige Aussagen der Autorin selbst gefunden (aka „Tradwifes haben irgendwie auch recht“), zusätzlich schreibt sie für die EMMA, die u. a. bekannt ist für ihre islamfeindliche Position. Da entsprechende Aussagen gegenüber Migrant*innen auch in „Heimat“ vertreten sind, weiß ich nun nicht mehr, wie ich die Autorin einordnen soll. Denn ich bin davon überzeugt, dass Werk und Autor*in sich keinesfalls trennen lassen …

Rein literarisch war es für mich trotz des weirden Endes ein 5-Sterne-Read. Ich muss das Werk aber in Kontext setzen und ziehe dafür deutlich Sterne ab. Denn Tradwifes sind gefährlich - gerade in ihren Elementen, die irgendwie „richtig“ erscheinen. In einer komplexen und krisengeprägten Welt kann sich der Rückzug in eine Scheinkontrolle mit klaren Regeln und Überzeugungen verlockend anfühlen. Doch an diesem Punkt endet der Roman, weshalb die Thematik doch extrem verharmlost (wenn nicht gar romantisiert) wird. Da hätte so viel mehr Potenzial drin gesteckt!