Intensives Abbild unserer Gesellschaft

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Als Jana mit ihrer Familie aus der Stadt aufs Land zieht, merkt sie schnell: Hier ticken die Uhren anders. Hinter gepflegten Vorgärten und freundlichem Smalltalk verbirgt sich ein höchst konservatives Weltbild – AfD-Wahl inklusive. Besonders fasziniert ist Jana von ihrer Nachbarin Karolin, die charmant, selbstbewusst und ganz in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter aufgeht. Auf den ersten Blick wirkt Karolin wie die Verkörperung eines idyllischen Familienlebens, doch unter der Oberfläche lebt sie ein Lebensmodell, das auf strikte Geschlechterrollen, Hausfrauenideal und tradierte Werte setzt – ganz im Sinne einer „Tradwife“-Bewegung, auch wenn der Begriff im Buch nie fällt.

Je mehr Zeit Jana mit Karolin verbringt, desto stärker gerät sie in deren Bann. Anfangs belächelt sie manche Aussagen noch – etwa, dass Kinder ausschließlich zuhause betreut werden sollten oder Impfungen schädlich seien – doch nach und nach verschieben sich ihre eigenen Grenzen. Die Ehe mit ihrem Mann Noah kriselt, weil er sich kaum an Haushalt und Kindererziehung beteiligt. Die Überforderung wächst, und in ihrer Enttäuschung und Erschöpfung findet Jana in Karolins Weltbild plötzlich Halt. Es ist wie ein schleichender Prozess, eine Abwärtsspirale, in der sie immer tiefer in diese Denkweise hineingleitet.

Hannah Lühmann erzählt diesen Wandel auf nur 170 Seiten, in einem kompakten und konzentrierten Erzähltempo. Der Einstieg ist rasant, fast ohne Atempausen: Kaum hat Jana den Umzug hinter sich, begegnet sie Karolin, und schon wird sie immer mehr mit deren Überzeugungen konfrontiert. Diese Verdichtung sorgt zwar für Spannung, ließ mich aber gelegentlich wünschen, die Autorin hätte den inneren Konflikt Janas noch ausführlicher ausgeleuchtet. Gerade ihre anfängliche Skepsis kippt mir persönlich zu schnell ins Gegenteil – ein langsamerer Aufbau hätte die Glaubwürdigkeit verstärkt.

Interessant ist, dass es im Roman kaum eine explizite moralische Instanz oder einen moralischen Zeigefinger gibt. Zwar fungiert Noah in einzelnen Momenten als Gegenstimme, doch diese bleibt schwach und kann Janas gedankliche Entwicklung nicht wirklich bremsen. Das macht „Heimat“ zu einem stillen, aber eindringlichen Spiegel gesellschaftlicher Strömungen: Menschen, die sich im eigenen Leben alleingelassen fühlen, können anfällig für radikale Weltbilder werden – nicht durch plötzliche Überzeugung, sondern durch eine Mischung aus Erschöpfung, Orientierungslosigkeit und dem Wunsch nach Struktur.

Insgesamt hat mich „Heimat“ thematisch überzeugt: Der Schreibstil ist prägnant, die Atmosphäre dicht, und die Darstellung der Dynamik zwischen Jana und Karolin ist intensiv. Gleichzeitig hätte ich mir mehr Tiefe und Ausarbeitung gewünscht, um die innere Wandlung greifbarer zu machen. So bleibt ein Roman, der wichtige gesellschaftliche Fragen stellt und Denkanstöße liefert, aber in seiner Kürze nicht das volle Potenzial entfaltet.