Unterhaltsame Zeitreise

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
dorli Avatar

Von

Der 79-jährige Heinz Labensky wohnt in einem Seniorenheim am Erfurter Stadtrand und führt ein unscheinbares Dasein. Sein Alltag ist eintönig, Höhen oder Tiefen gibt es nicht. Das ändert sich, als er einen Brief aus Warnemünde erhält, in dem es um das spurlose Verschwinden seiner Kindheitsfreundin und Jugendliebe Rita Warnitzke vor fast fünfzig Jahren geht. Kann es wirklich sein, dass es sich bei dem in einer Berliner Klärgrube gefundenen Skelett um Ritas Überreste handelt? Heinz will es genau wissen und steigt in einen Flixbus nach Warnemünde. Sein Ziel: endlich die Wahrheit über Ritas Verbleib klären und damit das größte Rätsel seines Lebens lösen.

Mein Roadtrip mit Heinz Labensky beginnt am Bahnhof, als er gerade im Begriff ist, sich ein Seniorenticket Richtung Ostsee zu kaufen. Die Bedienung des Fahrscheinautomaten erweist sich als Hürde - die Welt, so scheint ihm, ist in den zehn Jahren, die er mittlerweile im Heim verbracht hat, komplizierter geworden. Er hat Glück und wird eingeladen, sich einer Reisegruppe anzuschließen. Damit steht der Fahrt zu Ritas Tochter nach Rostock/Warnemünde nichts mehr im Weg.

Kaum sitzen wir im Bus, wird mir klar, dass diese Fahrt eine Zeitreise werden wird - in Heinz’ Vergangenheit und in die Historie der DDR, denn Heinz beginnt, unterschiedlichen Mitreisenden und damit auch mir aus seinem bewegten Leben zu erzählen. Heinz ist in einem kleinen brandenburgischen Dorf aufgewachsen. Er hat ein schlichtes Gemüt, ist ziemlich begriffsstutzig. Seine Mutter hat ihm damals erklärt, „…dass er ganz einfach da, wo Herz und Hirn vergeben wurden, leider nur einmal seine Hand gehoben habe…“ (S.31). Er galt als Außenseiter, bis auf Rita hatte er keine Freunde. Seine Welt ist immer klein geblieben, er hat den Osten Deutschlands zeitlebens nicht verlassen. Das Besondere an dem Mann, der als Rechenniete mit Leseschwäche schon früh die Schule verlassen musste: er macht seinen Mangel an Bildung durch eine herrlich blühende Fantasie wieder wett. Ich bin begeistert und lausche gespannt seinen Geschichten.

Rita hat ihr Heimatdorf sehr zum Verdruss von Heinz schon in jungen Jahren verlassen. Da er aber geschworen hat, sie immer zu beschützen, macht er sich irgendwann auf die Suche nach ihr (er spürt sie sogar in Berlin auf, verliert sie aber wieder aus den Augen). Auf seinen Wegen gerät er immer wieder in absonderliche Situationen und ist in allerhand Machenschaften verstrickt. Diese erlebe ich hautnah und sehr umfassend mit und erfahre dabei, wie das alltägliche, politische und gesellschaftliche Leben in der DDR aus Sicht von Heinz war. Die Geschichten sind interessant, zum Teil aber auch sehr langatmig.

Heinz’ Geschichten sind genauso aufgebaut wie seine Gedankenwelt. Abstrus. Abenteuerlich. Alles, was er sieht, hört oder riecht, verarbeitet er nur sehr langsam. Wenn er etwas nicht begreift, improvisiert er. Er kramt in Erinnerungen rum oder füllt die Lücken mit spontanen Hirngespinsten. Auch kommt er beim Denken und Erzählen oft vom Weg ab, schweift mal hierhin, mal dorthin. Auf diese Weise bastelt Heinz sich seine Sicht auf die Dinge. Wie viel Wahrheit in dem steckt, was er zu erzählen hat und wo sich Luftschlösser eingeschlichen haben, bleibt unklar. Aber egal, es hat Spaß gemacht, diesem einfachen, aber gutherzigen Mann zuzuhören. Seine Geschichten sind zwar ausgesprochen weitläufig und driften ab und an ins Skurrile ab, sind aber gleichzeitig auch sehr unterhaltsam. Ich habe es als Bereicherung empfunden, ihn auf seiner Fahrt begleitet zu haben.

Irgendwann ist die Reise nach Warnemünde zu Ende. Und was Heinz dann dort erlebt, hätte selbst er sich nicht zusammenreimen können.