Sensibles Porträt einer Adipösen

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Henriette wiegt 190 Kilo. Sie ist Buchhalterin und froh, im Home-Office arbeiten zu können, denn sie verlässt ihre Wohnung nur äußerst ungern.
Autorin Andrea Heinisch beschreibt in kurzen Episoden Henriettes Leben. Das äußere und das innere. Dass sie zum Beispiel zwei Mägen hat. Nicht wirklich, aber wie sollte sie sonst so viel essen müssen. Und dass in ihrem Herz eine Margerite blüht, denn sie ist verliebt. Doch wie soll das gehen, verliebt und derart übergewichtig?
Die Probleme, die Henriette hat, werden thematisiert. Nichts wird weggelassen, nichts wird beschönigt. Von engen Toilettenkabinen im Flugzeug über die Scham beim Einkaufen von Nahrung bis zu Depression und Selbsthass und einem ambivalenten Verhältnis zu einer Mutter, die in ihrem durchaus liebevollen Kümmern übergriffig und anmaßend ist.
Über Henriettes Erinnerungen an ihre Kindheit erhaschen wir Details, mit denen jeder Psychologe ihre Entwicklung begründen könnte.
Doch darum geht es nicht. Nicht um Erklärung. Vielmehr um das Hinein-Fühlen. Das Miterleben.
Man könnte befürchten, ein trostloses Buch über ein trostloses Schicksal in die Hand zu nehmen. Aber Heinisch stellt sich mit einer ungeheuren, beinahe wuchtigen Sensibilität an Henriettes Seite, schaut genau hin und schreibt, was sie sieht, so nüchtern wie poetisch, so zart wie schonungslos in meist kurzen Sätzen nieder. Sie gestattet sich Leichtigkeit und Humor, aber keine Ironie. Sie nimmt keine Bewertung vor, verbietet sich jedwede Interpretation. Subtil und warmherzig führt sie uns nicht nur an einen besonderen Menschen heran, sondern auch an unsere eigenen Vorurteile, und bietet gleichzeitig die Chance, diese zu überwinden.
Dieses Buch zu lesen ist ein großes Glück. Oder anders gesagt: Wer sich dabei beobachten würde, könnte sich vermutlich lächeln sehen.