Herbstvergessene

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petzki Avatar

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Nach mehr als zehn Jahren ohne Kontakt erhält Maja Sternberg plötzlich einen Anruf ihrer Mutter, die sie bittet, dringend zu ihr nach Wien zu kommen. Sie müsse ihr unbedingt etwas zeigen. Eine Woche später fährt Maja nach Wien, doch ihre Mutter ist tot. Vom Balkon gefallen. Die Polizei geht von Selbstmord aus, was Maja nicht glauben kann, passt das doch nicht zu der starken und resoluten Frau, als die Maja ihre Mutter kennt.

Beim Sichten des Nachlasses stößt Maja auf einige seltsame Dinge: ein Foto ihrer Großmutter mit einem dunkelhaaringen Kind - doch ihre Mutter war blond und außerdem später geboren als das Foto datiert ist. Die Geburtsurkunde ihrer Mutter: Vater unbekannt, Geburtsort Hohehorst, ein SS-Entbindungsheim für ledige Mütter in der Nähe von Bremen. Sie erhält einen Anruf eines Verlages, der sie darum bittet, auch den Rest des Manuskriptes der Biografie ihrer Großmutter einzusenden. Was für ein Manuskript?

Maja erfährt immer mehr Dinge, die sie nicht über ihre Mutter und Großmutter wusste. Ihre ganze Geschichte scheint auf einem Lügengebilde aufgebaut zu sein. Alles, dessen sie sich bisher sicher war, gerät ins Wanken. Sie recherchiert weiter und lernt dabei Roman Sartorius kennen, den Sohn eines Entbindungsarztes auf Hohehorst, der vor Jahren spurlos verschwand. Die Geschichte wird immer rätselhafter. Nach und nach finden alle Puzzleteile zusammen und die Geschichte endet in einem furiosen Showdown, den ich für dieses Buch etwas übertrieben fand und so nicht gebraucht hätte, aber es tut der Geschichte und dem Lesevergnügen letztlich keinen Abbruch.

Was für ein wunderbares Buch! Die Leseprobe hatte mich schon sehr angesprochen, weil ich Romane mit zeitgeschichtlichem Hintergrund sehr mag, und ich wurde mehr als überrascht. Dieses Buch ist das Beste seiner Art, was ich seit langem gelesen habe.

Aufgebaut in zwei Erzählsträngen, der Gegenwart und Majas Suche nach ihrer Vergangenheit, ihrer Schuldgefühle der Mutter gegenüber und ihrer Probleme in der Partnerschaft und demgegenüber die Geschichte der Großmutter, der Schwangerschaft mit dem Kind des Mannes ihrer Schwester, ihrer Flucht von zu Hause in das Entbindungsheim Hohehorst und dem Leben dort während des 2. Weltkrieges.

Die unterschiedlichen Erzählstränge sind gut abgesetzt durch unterschiedliche Schriftarten, so dass der Leser keine Schwierigkeiten hat, sich zurecht zu finden. Der Schreibstil ist gradlinig und direkt, einfach zu lesen. Die Charaktere sind wunderbar beschrieben, jeder wie er sein soll, sympatisch oder unsympatisch. Es fällt einem leicht, sich in Maja hineinzuversetzen, mit ihr mitzuleiden, wenn sie hört, dass die Mutter ihren Wunsch, Innendekorateurin statt Dolmetscherin zu werden, auch nach Jahrzehnten nicht respektiert hat und das vor ihren Freunden verleugnet. Noch interessanter aber fand ich den biografischen Teil der Großmutter. Auch er ist wunderbar erzählt und faszinierend, weil er eine Zeit beschreibt, von der man heute wenig weiß.

Anja Jonuleit gelingt es hervorragend, die Lebensgeschichte der drei Frauen in den zeitgeschichtlichen Hintergrund einzuflechten. So wird Geschichte interessant. Ich hatte bis dato noch nichts von den Lebensborn-Heimen gehört und dieses Buch hat mich dazu gebracht, im Internet zu forschen. Ich hab jetzt schon stundenlang darüber gelesen und ein Besuch des Geländes von Hohehorst und den dazugehörigen Ausstellungen steht schon auf meiner Liste. Ich finde es toll, wenn ein Roman so etwas erreichen kann. Vielen Dank, Anja Jonuleit!