Herbstvergessene - doch die Erinnerung bleibt

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Der Kontakt zwischen Lilli und ihrer Tochter Maja beschränkt sich seit einigen, wenigen Jahren auf belanglose Postkarten zum Geburtstag und zu Weihnachten. Miteinander gesprochen haben sie aber bereits seit zehn Jahren nicht mehr. Lilli hat einst Karriere als Konferenzdolmetscherin gemacht, Maja, während ihrer Schulzeit auf ein Internat abgeschoben, wird für die Mutter erst interessant, als diese mit einem bravourösen Abitur scheinbar in die Fußstapfen der Mutter tritt und sich zur Dolmetscherin ausbilden lässt. Dass Maja letztendlich aber doch ihrer kreativen Ader folgt und Interior Decorater wird, kränkt Lilli. Das frisch geknüpfte Band zwischen Mutter und Tochter reißt ab, ebenso der Kontakt. Eines Tages ruft Lilli Maja aus heiterem Himmel an, will sie sprechen, ihr etwas Wichtiges mitteilen, sich mit ihr treffen. Maja, die diesen Anruf nicht einschätzen kann, lässt sich schließlich auf ein Treffen ein und verspricht, eine Woche später zu ihrer Mutter nach Wien zu fliegen. Dass das Telefonat der letzte persönliche Kontakt der beiden sein wird, ahnt Maja nicht. Als sie in Wien ankommt, ist die Mutter verstorben. Die Polizei geht von Selbstmord aus, Maja kann dies nicht glauben. Eine alte Freundin der Mutter schickt ihr einen Umschlag, den Lilli bei ihr deponiert hat. Er enthält ein Foto sowie einen kleinen Schlüssel. Das Foto zeigt ihre Großmutter Charlotte mit einem Baby auf dem Arm und gibt Maja Rätsel auf. Auf der Rückseite ist es mit März 1944 datiert, ihre Mutter wurde aber erst im Mai 1944 geboren. Wer ist das Kind auf dem Arm ihrer Großmutter? Sie geht dieser Frage nach und stößt auf ein lang gehütetes Geheimnis. Ein Geheimnis, das auch ihre Mutter Lilli erst kurz vor ihrem Tod gelüftet hat.

Denn Charlotte hat ihre Geschichte aufgeschrieben. Lilli, die an Krebs erkrankt ist, ist dabei ihr Leben zu ordnen und findet deren Manuskript, das sich seit Jahren in unbeachtet in ihrem Besitz befunden hat. Herbstvergessene beginnt mit Charlottes Erinnerungen. Sie verweben sich mit Majas Versuchen, sich mit ihrem Leben, ihrem Verhältnis zu ihrer Mutter und deren Nachlass auseinanderzusetzen, es neu zu ordnen.

Charlottes Rückkehr in ihre Vergangenheit, in die schicksalhaften Kriegsjahre, ist die eigentliche Würze des Buches. Wann immer von Charlotte in den 40ern zu Maja in der Gegenwart umgeschwenkt wird, kann man es kaum erwarten, wieder zurück zu Charlotte zu kommen.

Anja Jonuleit hat es meisterlich verstanden, Vergangenheit und Gegenwart, das Leben dreier Generationen, miteinander zu verweben und ein harmonisches Gesamtbild entstehen zu lassen. Obwohl der Leser Charlotte nur durch ihr Manuskript kennen lernt, baut man schnell eine Verbindung zu ihr auf. Maja, im Buch viel präsenter als ihre Mutter und Großmutter, schafft dies (für mich) nicht. Sie raucht zu viel, ist in ihrer Gefühlswelt wenig gefestigt. Sie muss noch ihre Mitte finden. Ob die Auflösung ihres Familiengeheimnisses ihr dabei hilft, wird dem Leser verborgen bleiben. Die letzten Seiten geben aber eine gewisse Hoffnung, dass sie mit ihren 41 Jahren eine gute Chance hat.

Fazit: „Herbstvergessene“ von Anja Jonuleit gehört zu den Büchern, die man anfängt und nicht mehr aus der Hand legt. Ihre Geschichte ist spannend, gefühlvoll, interessant. Sie gibt dem Leser außerdem einmal einen anderen Einblick in die Deutsche Geschichte des zweiten Weltkrieges, als die, die man sonst üblicherweise in anderen Romanen findet. Anja Jonuleits zweiter Roman ist nicht nur etwas für den Herbst, sondern für alle Jahreszeiten. Wer sich etwas gönnen möchte, sollte sich mit „Herbstvergessene“, einem Lieblingsheißgetränk und handlichen Leckereien ein gemütliches Plätzchen suchen und sich für ein paar Stunden fesseln lassen von Charlotte, Lilli und Maja.