Niemandskind

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clara_fall Avatar

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Vaughn sieht das Leben aus einem besonderen Blickwinkel und so kann er manches Mißgeschick schon sehen, ehe es überhaupt eingetreten ist: die Scheidung seiner Eltern, Fehltritte im Alltag, Rechtschreibfehler und soeben Verlorengegangenes. Und so bleibt auch sein Blick an der elenden Gestalt haften, die vor dem YMCA ein Neugeborenes ablegt und anschließend in Richtung Friedhof flüchtet - an dieser Stelle ist bereits die Mutter für die Hauptfigur des Buches gestorben. Vaughn vermeidet die richtige Beschreibung der vermeintlichen Mutter, weil er denkt, "ohne sie bin ich besser dran". Nun beginnt der lange Weg des namenlosen Findelkindes. Im Krankenhaus begegnet sie der Nachtschwester, die sie Lily nennt und sich ausmalt, sie wäre ihr Kind. Doch der Wunsch nach einem Partner überragt diesen Traum.
Die erste Pflegefamilie nennt sie Shandi. Der Vater, ein Einwanderer und Besitzer eines kleinen Restaurants, singt ihr die kanadische Hymne zum Einschlafen. Er träumt von einem handwerklich oder sportlich begabten Kind, seine Frau von einem Model oder einer Tänzerin. Der eigene Traum vom Restaurant scheitert, bald schon steht die Pflegemutter allein da und sucht Zuflucht in Drogen. Ihre wohl letzte gute Entscheidung ist, das kleine Mädchen in eine bessere Pflegefamilie zu geben. Dort sind beide Anwälte und wird von ihnen Shannon genannt. Sie legt viel Liebe in den Umgang mit diesem ganz besonderen Kind, doch er liebt die Stille und lässt diesen Wunsch Shannon schon bald körperlich spüren. Zum Abschied bekommt sie die Erklärung von Geringschätzung und einen Gipsarm mit auf den Weg. Und schon ist sie wieder auf dem Weg zum nächsten Zufluchtsort - ein kirchliches Kinderheim, in dem sie den Namen Samantha bekommt.

Die Hauptfigur erzählt die Geschehnisse so, als hätte sie einen Blick von oben auf ihr Leben. Es zerreißt einem fast das Herz beim Lesen, welch unterschiedliche Menschen sie kennenlernt, die ihr alle irgendwie ein Zuhause bieten wollen, jedoch nur ihre Erwartungen auf das kleine Mädchen projezieren und sich niemals fragen, was dieser hilflose Mensch eigentlich empfindet, warum es weint oder sich wehrt. Nach der LP bleibt die Befürchtung, dass dieses Niemandskind noch einen langen Weg vor sich hat, bis es endlich angekommen ist. Der Schreibstil ist sehr warm, sehr viel Liebe zum Detail ist zu spüren (z.B. durch die genaue Beschreibung der einzelnen Personen und des jeweiligen Stadtbildes).
Das Cover ist etwas bizarr und befremdlich, aber vielleicht kann man sich damit anfreunden, je mehr man sich mit dem Inhalt vertraut machen kann.