Ruhiges, solides Romandebüt

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marieon Avatar

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Charlie ist fünfzehn und muss zur Schulpsychologin Frau Knubbe. Sie sitzt ihr in ihrem Büro gegenüber und lässt den Blick schweifen. Auf dem Schreibtisch liegen stapelweise Mappen, ungeordnete Stifte, eine Schale mit Rosinen und eine Schachtel Zigaretten. Wenn die Wohnung der Spiegel der Seele ist, wie Charlies Mama immer sagt, dann ist Frau Knubbes Seele ziemlich rummelig. Charlie kaut Fingernägel und versucht die Antworten auf Frau Knubbes Fragen zu umschiffen. Sie ist mit dem Verlust ihres Vaters noch nicht fertig, aber das kommt ihr nicht über die Lippen. Das Helle ist dunkler geworden und die Apfelschorle schmeckt anders. Kati ist nicht mehr ihre Freundin und ihre Mutter seit Wochen gestresst. Genug Gründe, warum sie hier sitzt, aber irgendwas blockiert sie.

Im Unterricht verliert sie die Worte. Sie kann die Fragen der Lehrer nicht beantworten, ihr Kopf bleibt leer und wird heiß. Tränen verschleiern ihr die Sicht, die anderen lachen. Charlie sieht sich hilfesuchend nach Kati um, aber die sitzt jetzt neben Sofia und verdreht die Augen. Die Klassentür öffnet sich und ein Junge tritt ein. Er ist riesig, hat blonde Locken und wirkt sehr sicher. Die Lehrerin stellt ihn als Kornelius vor, Schmitti ruft: „der sieht aus wie Pommes“. Pommes lacht und setzt sich neben Charlie.

Zuhause schiebt Charlie eine Tiefkühlpizza in den Backofen. Ihre Mutter hatte Spätschicht und liegt im Bett, wie meistens. Charlie schaltet den Fernseher an und guckt ihre Lieblingsserie „Liebe auf Umwegen“. Der Bösewicht Giovanni will mit seiner Freundin abhauen. Das würde Charlie auch gerne. Sie schaut durch das Fenster in den Himmel und denkt an ihren Vater. Sieben Jahre war sie alt, als er in der Küche stand und zu ihrer Mutter sagte: „Ich kann nicht mehr“. Er nahm seine Reisetasche, ging zur Wohnungstür, öffnete sie und schloss sie hinter sich. Auch da hatte Charlie keine Worte gehabt. Sie glaubt, dass die richtigen Worte ihn aufgehalten hätten, dass er dann bei ihr geblieben wäre.

Fazit: Julia Engelmann, die Poetry-Slammerin, Sängerin und Schauspielerin, hat ein ruhiges, solides Romandebüt hingelegt. Sie versetzt sich in ihre traurige, jugendliche Protagonistin und lässt sie ihr Erleben erzählen. Sie fühlt sich falsch, anders und nirgendwo dazugehörig. Sie muss den Verlust des Vaters verkraften, die Traurigkeit der Mutter aushalten und Freundschaften scheitern sehen. Die Unsicherheit behindert sie so sehr, dass ihr jede Eigeninitiative abhandenkommt. Ein neuer Mitschüler bringt Licht in ihr Dunkel, sieht sie, hört ihr zu und bringt sie zum Lachen, doch auch er leidet. Mir war der Anfang der Geschichte zu düster. Ich konnte mich nicht so recht einlassen. Trotz der Schwere und der Aussichtslosigkeit blieb ich emotional unbewegt. So als hätte die Autorin ihrer Heldin ihre eigenen Vorstellungen von Traurigkeit übergestülpt. Das änderte sich für mich jedoch nach siebzig Seiten. Ab da fehlte mir nichts mehr. Da war Humor, jede Menge Gefühl, ganz feine Metaphern und ganz viel Glaubwürdigkeit. Es hat mich bewegt Charlie bei ihren Erfahrungen im Zwischenmenschlichen, ihrer Entwicklungs,- und Erkenntnisfähigkeit über die Schulter zu schauen. Plötzlich war meine eigene Jugend wieder ganz nah. Insgesamt ein lesenswerter Coming -of- Age Roman.