Die Erinnerung als Raum familiärer Intimität und politischer Schatten

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Die vorliegende Leseprobe, die sich durch eine dichte, sinnlich aufgeladene Sprache auszeichnet, öffnet sich mit einem der stärksten Motoren autobiographischen Schreibens: der Erinnerung an die Großmutter. Bereits im ersten Satz wird die Leser:in in eine subjektive Welt eingeführt, in der sinnliche Wahrnehmung, insbesondere Geruch und Berührung, eine zentrale Rolle spielen. Der Duft von Jasmin und Lederöl evoziert nicht nur ein spezifisches Bild der Großmutter, sondern auch eine Symbiose aus Natur und Handwerk, Weiblichkeit und Arbeit, Sanftheit und Widerstandskraft.

Was wie eine liebevolle Kindheitserinnerung beginnt, entfaltet sich schnell als vielschichtiges Porträt familiärer Konstellationen, durchdrungen von gesellschaftspolitischer Realität. Die Großmutterfigur wird zum Anker von Geborgenheit und Widerstandskraft. Ihre »knotigen Finger«, die »geschickt mit dem Leder« umgehen, verweisen nicht nur auf die materielle Wirklichkeit ihrer Existenz, sondern auch auf ein kulturell tradiertes weibliches Wissen, das hier nicht romantisiert, sondern handfest und konkret geschildert wird.

In scharfem Kontrast dazu steht die Beschreibung des Vaters – eine Figur der Entfremdung, der Unzugänglichkeit. Der Text inszeniert das Vaterbild als stillen Träger kollektiver Traumata: »Ein Mann, dem man die Substanz aus dem Leib geprügelt hatte.« In dieser Formulierung verdichten sich Gewalt, Systemkritik und psychologische Zerrüttung. Der Vater erscheint als Opfer einer politischen Vergangenheit, die seine Beziehung zu seiner Tochter gleichsam kontaminiert hat. Seine wissenschaftliche Tätigkeit als Kartograf wird zur Metapher für seine innerliche Entfernung von der Welt: Er erschafft Karten, bleibt aber selbst orientierungslos im Geflecht der zwischenmenschlichen Nähe.

Auffällig ist die feine Ironie, mit der die Mutterfigur gezeichnet wird. Ihre obsessive Kontrolle über das Familienleben, ihr Hang zum Klatsch und zur gesellschaftlichen Normierung – all dies wird zwar mit kritischem Blick erzählt, aber nie ohne Ambivalenz. Besonders die Szene, in der die Großmutter bei Tisch rülpst, entwickelt eine fast burleske Komik und offenbart zugleich das subversive Potenzial weiblicher Körperlichkeit. Der Rülpser wirkt wie ein Widerwort gegen die normativen Anforderungen der Mutter, ein Ausdruck anarchischer Lebendigkeit und ein Moment weiblicher Selbstermächtigung.

Die Leseprobe verwebt so auf meisterhafte Weise das Private mit dem Politischen. Die Kindheitserinnerung wird zum Archiv familiärer Erfahrungen, zur Chronik der Unterdrückung, des Widerstands und der Sprachlosigkeit. Zugleich ist der Text ein Plädoyer für die Kraft der Erinnerung und die Komplexität weiblicher Biographien im Schatten gesellschaftlicher Gewalt.

Wahnsinnig gut, würde gerne weiterlesen!