Sehr berührendes Epos über das Aufwachsen im kommunistischen China zwischen 1970 und 1989

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
eternal-hope Avatar

Von

"Himmlischer Frieden" ist das Debüt der mit ihrem Mann und den gemeinsamen zwei Töchtern in England lebenden, 1970 in China geborenen und aufgewachsenen, Autorin Lai Wen, die ihr Geburtsland 1989 nach den Vorfällen auf dem Platz des Himmlischen Friedens für immer verlassen hat. Das Buch beschreibt die wahre Geschichte der Autorin in ihren ersten 19 Lebensjahren, leicht fiktionalisiert, aber grundsätzlich auf wahren Erlebnissen beruhend. Die Geschichte zieht sich über 560 Seiten und das braucht Zeit und Raum, zeitlich zum Lesen und auch emotional zum Verarbeiten.

Einfühlsam und unterhaltsam erzählt begleiten wir die Autorin von ihrer frühen Kindheit über ihre Grundschulzeit über die weiterführende Schule bis zur Zeit als Studentin der Literaturwissenschaft an der Pekinger Universität, in der es schließlich zu den Protesten für Demokratie und Meinungsfreiheit auf dem Platz des Himmlischen Friedens kommt, die am Ende - wie historisch bekannt ist - von der Chinesischen Regierung gewaltsam niedergeschlagen werden.

Eine besondere Stärke der Autorin liegt darin, menschliche Beziehungen und Emotionen spürbar zu machen. In diesem besonderen Buch geht es ganz viel um Beziehungen: um die Beziehung der kleinen Lai Wen zur geliebten Großmutter, die im gemeinsamen Haushalt mit der Familie lebt. Eine unbeugsame Frau mit sehr starken Meinungen, aber auch viel Humor und Liebe zur kleinen Enkelin, die aber tragischerweise gegen Ende ihres Lebens immer mehr im Nebel der Demenz versinkt, was ebenfalls ausführlich geschildert wird.

Vor dem Hintergrund dieser starken Persönlichkeit wirken Lai Wens Eltern sehr blass: der Vater wurde als Intellektueller während der Kulturrevolution verfolgt und vermutlich auch gefoltert, seitdem ist er nur mehr ein Schatten seiner selbst, körperlich zwar anwesend, psychisch und emotional kaum mehr. Die Mutter ist eine außergewöhnlich schöne, aber eher kalte Frau, die sich schwer damit tut, dem kleinen Mädchen ihre Liebe zu zeigen (und auch die Studentin Lai Wen fragt sich noch, ob die Mutter sie jemals geliebt habe). Es wird also spürbar, wie viel Traumatisierung in der chinesischen Gesellschaft nach der Kulturrevolution da ist.

Lai Wen wächst als grundsätzlich recht angepasstes, aber neugieriges und intelligentes Kind auf. Schon im Volksschulalter wird sie mit brutaler Polizeigewalt konfrontiert, als sie gemeinsam mit Gleichaltrigen eine Ausgangssperre missachtet, auf die Polizeiwache geschleppt und ihr von einem der Beamten der Arm ausgekugelt wird. Das wird ihre Angst vor dem Machtapparat noch verstärken. Gleichzeitig wird sie in der Schule mit kommunistischer Propaganda überschüttet, die Schulklasse macht einen Ausflug zur konservierten Leiche Maos und es wird immer wieder betont, wie wichtig der Verzicht für das große Ganze sei.

Als Jugendliche beginnt Lai Wen eine Beziehung mit einem ihrer Freunde aus der Kindergruppe, die gemeinsam gespielt und die Ausgangssperre missachtet hat. Er ist damals für sie eingetreten und hat vor der Polizei die Schuld auf sich genommen. Beide verbindet ihre Sensibilität und Intellektualität, gleichzeitig trennt sie der unterschiedlichen Klassenhintergrund: Lai Wen ist aus einer deutlich ärmeren Familie als er, und sein Vater ein hoher Beamter in der chinesischen Regierung.

Es gibt verschiedene Momente in Lai Wens Leben, die sie immer mehr politisieren: angefangen mit dem traumatischen Erlebnis als Kind und den Bruchstücken, die sie von ihrem Vater erfährt (einmal nimmt er sie mit zu einer Erinnerungsmauer an die Opfer der Kulturrevolution und öffnet sich ihr ein bisschen), ist es insbesondere auch die Literatur und die Freundschaft zu einem alten Buchhändler, der sie sehr fördert, die ihr helfen, einiges mit neuen Augen zu sehen: so liest sie beispielsweise das Buch "1984" von George Orwell, erkennt so einiges wieder und immunisiert sich damit gleichzeitig ein bisschen für die Zukunft gegen die Propaganda der gleich geschalteten Presse.

Ihre herausragenden intellektuellen Leistungen eröffnen ihr die Möglichkeit eines speziellen Förderunterrichts und schließlich, über einen Aufsatzwettbewerb, bei dem sie heraussticht, ein Stipendium für das Studium der Literaturwissenschaft an der staatlichen Universität Pekings. Dort wird sie sich mit verschiedenen anderen Studierenden anfreunden, ihre politischen Gedanken weiterentwickeln und ein (kleiner, unbedeutender, aber doch) Teil der Protestbewegung auf dem Tian'anmen-Platz werden.

Insgesamt ist das Buch besonders für jene interessant, die auch sehr gerne feinfühlige und tiefgründige Familiengeschichten lesen und sich gleichzeitig für eine wahre Geschichte aus der Zeit des kommunistischen Chinas interessieren. Ich lese solche sehr gerne und deshalb hat mir das Buch wirklich gut gefallen: ich mochte es, wie authentisch, feinfühlig und gleichzeitig unterhaltsam es der Autorin gelingt, die Tiefe und Differenziertheit menschlicher Beziehungen darzustellen. Wenn man sich darauf einlassen kann und will, wird man mit einer wunderschönen Geschichte belohnt und lernt wie nebenbei ganz viel über das Leben in Peking zwischen 1970 und 1989.

Wer hingegen lieber kurz und prägnant mehr über den Widerstand gegen das diktatorische Regime in China und über die Hintergründe des Tian-anmen-Aufstandes und -massakers lesen möchte, ist möglicherweise mit einem anderen Buch besser beraten: auch wenn der Titel das suggeriert, nimmt dieses Thema im Buch einen zwar wichtigen, aber angesichts des gewaltigen Umfangs insgesamt kleinen Teil ein: seitenmäßig weit ausführlicher geschildert werden die Details der verschiedenen Beziehungen, etwa zwischen Lai Wen und ihrer Großmutter, ihrem ersten festen Freund oder auch einer guten Freundin auf der Universität.

Mich persönlich hat das nicht gestört, im Gegenteil, ich mochte es und für mich hat es das Buch besonders gemacht. Insgesamt war es für mich dadurch auch deutlich angenehmer zu lesen als so manche andere Bücher, bei denen eine Gräueltat die nächste jagt... das ist hier zum Glück nicht im Zentrum des Buches, auch wenn naturgemäß gegen Ende, als es um den Tian-anmen-Platz geht, die dort verübten Grausamkeiten durchaus authentisch geschildert werden - aber das sind dann eben die letzten Seiten eines sehr langen Buches.

Es ist aber, wie bei allen Büchern, auch hier empfehlenswert, sich vorher damit zu beschäftigen, worum es sich handelt und ob man sich genau darauf gerne einlassen möchte. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und es wird einen festen Platz in meinem Herzen bekommen - Leseempfehlung!