Zwischen Anpassung und Aufbegehren

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miriam Avatar

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Die junge Lai wächst in einem lebhaften Arbeiterviertel in Peking mit ihren Eltern, ihrem jüngeren Bruder und der zupackenden und streitbaren Großmutter, die sie sehr mag, auf. Der Vater ist ein eher sanfter, zurückgezogener Mensch und von der Kulturrevolution versehrter Wissenschaftler. Die Mutter legt viel Wert auf Äußerlichkeiten und orientiert sich stark am Urteil der Nachbarschaft.
Lai selbst sieht sich als durchschnittlich, weder besonders hübsch noch begabt. Als sie eines Tages auf einen alten Buchhändler trifft, beginnt für sie eine Reise in die Welt der Literatur. Die Szenen in der Buchhandlung haben mir besonders gefallen, aufgrund der vielen literarischen Entdeckungen. Viele Bücher, die Lai empfohlen werden, gehören heute zum Kanon.
Lai ist ein stilles, kluges Mädchen, dass mit einem Stipendium an der Peking-Universität studieren kann. Aber das hat seinen Preis. Als Stipendiatin aus einfachen Verhältnissen muss Lai sich anpassen. Der Druck, unauffällig zu bleiben, ist groß, insbesondere während der Studentenunruhen.
Was diesen Roman für mich so besonders macht, ist die gekonnte Verbindung von Lais persönlicher Geschichte mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen in China, wie die Kulturrevolution unter dem „großen Vorsitzenden“ Mao, sowie die teils desaströsen Folgen für die chinesische Gesellschaft. Gerade die Schilderung der Studentenunruhen und die Ereignisse rund um den Tiananmen-Platz haben mich sehr bewegt. Hier ist der Text besonders kraftvoll und lebendig. Ein Glossar hätte ich mir dennoch gewünscht, um historische Hintergründe leichter nachvollziehen zu können.
Neben den politischen Themen geht es auch um Freundschaft, erste Liebe und Selbstfindung. Mit Gen, einem Jungen aus wohlhabenden, aber lieblos-kaltem Elternhaus hat sie eine toxische Beziehung. Die sich wiederholenden Szenen hätten gerafft werden können, zumal Gen später keine tragende Rolle mehr in ihrem Leben spielt. Schwierig zu lesen waren auch die Szenen mit den Selbstverletzungen und der Gewalt. Vielleicht wäre eine Trigger-Warnung angebracht. Schön dagegen fand ich die Szenen mit Madame Macaw, die Lais Nöte versteht, sie mit ihrer Theatergruppe auffängt und ihr neue Lebensperspektiven aufzeigt. Dabei zeigt sich deutlich, wie Lai sich persönlich weiterentwickelt und sich von den toxischen Beziehungen in ihrem Leben distanzieren kann.
Der Coming-of-Age Roman ist fiktiv, aber stark vom Leben der Autorin inspiriert. Er liest sich wie ein persönliches Zeugnis einer Generation, die zwischen Anpassung und Aufbegehren groß geworden ist. Mich hat das Buch sehr beeindruckt – durch seine ruhige, klare Sprache, seine dichte Atmosphäre und seine große erzählerische Kraft.