Zwischen persönlichem Aufbruch und politischem Widerstand

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
xxholidayxx Avatar

Von

Lai Wens Roman „Himmlischer Frieden“ nimmt uns mit auf eine eindrucksvolle Reise von Pekings Arbeitervierteln bis zu den dramatischen Ereignissen der Tian’anmen-Proteste 1989. Lai Wen, geboren 1970 in Peking, verließ China nach diesen Protesten und lebt heute in England. Ihre Geschichte verbindet persönliche Erinnerungen mit politischem Engagement und dem universellen Streben nach Freiheit.

Worum geht’s?
Das Buch schildert Lai Wens Aufwachsen in einer kleinen, von Armut und gesellschaftlichen Zwängen geprägten Wohnung. Während ihre Eltern kaum sprechen, ist die Großmutter die feste Bezugsperson. Lai entdeckt die Welt der Bücher, erhält ein Stipendium für die Universität und wird Zeugin und Teilnehmerin der Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Dabei zeichnet der Roman nicht nur die politischen Umbrüche, sondern auch die vielschichtigen menschlichen Beziehungen und den Wert von Freundschaft und Gemeinschaft nach.

Meine Meinung
Der Roman mit seinen über 550 Seiten ist ein ehrgeiziges Projekt, das mich zunächst etwas herausforderte. Die ersten 150 Seiten fielen mir schwer; die Handlung entwickelte sich langsam, und die vielen Details schienen zunächst wenig Fokus zu haben. Doch danach gewann die Erzählung erheblich an Dynamik und emotionaler Tiefe.

Besonders berührt hat mich die ungeschönte Darstellung des Familienlebens und der sozialen Zwänge. Gewalt gegen Frauen wird als gesellschaftliches Tabu gezeigt: „Bei diesen Gelegenheiten übte sich das gesamte Stockwerk in einer ebenso sonderbaren wie surrealen Scharade...“ (S. 14). Diese Alltagssituationen werden nicht nur erzählt, sondern spürbar gemacht. Die Großmutter, die inmitten dieser Verhältnisse ihre eigene Form von weiblichem Widerstand lebt, wird zur Symbolfigur für kleinen, aber hartnäckigen Mut.

Die Reflexionen über Erinnerung und Identität sind ein weiterer Pluspunkt. Lai Wen beschreibt, wie ihre Großmutter an Demenz erkrankt, und welche Bedeutung dies für den Verlust und die Trauer hat: „Was die Demenz meiner Großmutter mich lehrte, war, dass es möglich ist, um die Lebenden genauso zu trauern wie um die Toten“ (S. 279). Auch der Generationenkonflikt mit der Mutter, geprägt von Verletzungen und unausgesprochenen Schmerzen, zeigt die Komplexität familiärer Bindungen.

Politisch ist das Buch tief verwurzelt, erzählt von den mutigen Protesten junger Menschen und dem brutalen Regime, das diese unterdrückt. Die Dynamik der Studentenproteste und die Kraft der Freundschaft werden greifbar: „Wir alle gestalteten die Horizonte der Zukunft...“ (S. 479). Gleichzeitig bleibt Lai Wen menschlich nahbar, wenn sie von eigenen Ängsten und dem Gefühl des Kleinseins berichtet.

Literatur und das Lesen selbst werden als befreiende Kraft thematisiert, etwa im Gespräch mit dem Buchhändler: „Jeder stiehlt ein kleines Stück eines Buches, wenn er es liest“ (S. 144). Dies ist ein schönes Bild für die Wirkung von Geschichten und Wissen.

Auch wenn das Buch zu Beginn sehr ausführlich ist, bietet es durch seine Vielschichtigkeit und den ehrlichen Blick auf gesellschaftliche und persönliche Themen ein großes Leseerlebnis. Die Mischung aus politischem Widerstand, Familiendrama und persönlicher Reflexion macht „Himmlischer Frieden“ zu einem wichtigen Werk, das zur Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart einlädt.

Fazit
Mit 3,5 von 5 Sternen bewerte ich das Buch als wertvolle Lektüre, die Mut macht, trotz aller Widrigkeiten für Freiheit und Gemeinschaft einzustehen. Der langsame Einstieg ist dem Umfang und der Tiefe geschuldet, doch lohnt sich das Durchhalten. Vielen Dank an Vorablesen und den Ullstein Verlag für das kostenlose Rezensionsexemplar!