Provokant, poetisch, fesselnd
Vorneweg: Ich denke, dieses Buch wird die Gemüter spalten. Mich hat es komplett in seinen Bann gezogen und ich habe es an einem Tag durchgelesen. Es ist jedoch keine gefällige Geschichte, die chronologisch und klar verständlich erzählt wird. Vielmehr entfaltet sie sich durch das durchaus sprunghafte und teilweise verstörende Innenleben des Ich-Erzählers. Zudem muss man als Leser*in bereit sein, sich auf die hässlichen, abstoßenden und schmerzhaften Abgründe des Lebens einzulassen. Das erste Kapitel handelt von Filzläusen in Schamhaaren und wir landen direkt im sehr aktiven und getriebenen Sexualleben des queeren Protagonisten. Dabei ist die Sprache roh und explizit, gleichzeitig sarkastisch-humorvoll, modern und vor allem auch poetisch. Diese Kombination empfand ich als einzigartig und beeindruckend – ich habe manche Stellen gleich mehrmals gelesen, weil ich die Worte so machtvoll und treffend fand. Überhaupt spielt Sprache eine große Rolle in dem Buch; es gibt viel Metaphorik, bildhafte Vergleiche, Bezüge zu Kafka und auch viele kurze Passagen in anderen Sprachen. Es scheint, als ob der traumatisierte Protagonist in seinem alles dominierenden Liebeskummer und seiner Zerrissenheit zwischen der deutschen und der türkisch-arabischen Kultur in sprachlichen Details eine Art Halt findet, ebenso wie (zumindest kurzfristig) in seinem regen Sexualleben. Wenn ich ehrlich bin, so hat die Sprache auch mich als Leserin gerettet in diesem kraftvollen Buch, indem ich mich an besonderen Ausdrücken und Formulierungen festhalten konnte wie an einer Boje, bis ich mich wieder in den Strudel der Geschichte habe reißen lassen. Der Ich-Erzähler offenbart uns schonungslos teilweise abstoßende und verstörende Wahrheiten über sich selbst, belässt dagegen anderes, wie die Geschichte seiner großen Liebe zu Hassan, lange seltsam vage. Dennoch habe ich nie eine Distanz zu ihm gespürt, sondern war im Gegenteil von Beginn an berührt von seinem Leid und wollte unbedingt wissen, wie es mit ihm weitergeht. Dazu hat auch der ungewohnt sprunghafte Erzählstil geführt, der mittels unerwarteter Gedankensprünge, Fantasien und Erinnerungsfetzen eine starke Spannung erzeugt hat. Einen Stern Abzug gebe ich, weil ich mir zwischenzeitliche Auflockerungen der doch sehr schwermütigen Stimmung und ein aussagekräftigeres Ende gewünscht hätte. Fazit: Dieses Buch ist für mich ein beeindruckendes Debüt über die Suche nach der eigenen Identität, die zerstörerische Kraft von Liebe und Homophobie und die heilsame Wirkung von Freundschaft. Es ist keine leichte Kost und doch ganz leicht zu lesen. Ich kann es all jenen empfehlen, die die Macht der Sprache lieben, die gerne über poetische Formulierungen staunen und die bereit sind, sich provozieren zu lassen und bittersüßen Weltschmerz zu empfinden. Pari, die beste Freundin des Protagonisten, drückt es frei nach Kafka so aus: "Ich glaube, man sollte nur solche Bücher lesen, die einen stechen und beißen." (S. 206)