Sehr bewegend: über Wahlfamilie, Einsamkeit und Trauer

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miriam Avatar

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Die Erzählung beginnt, wie Hanna auf dem Weg zu einer Einladung in allen Frauen, die ihr begegnen, ihre frühere Freundin Zeyna erkennt, die schon lange verschwunden ist.

Hanna, Zeyna und Cem sind Freunde seit einem Sommer in den späten 80er Jahren und wachsen gemeinsam in einer Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet auf. Solange sie zusammen sind, fühlen sie sich wie eine Familie. Herkunft spielt für sie keine Rolle. Hanna, ihre Großeltern und Cem und seine Familie behandeln Zeynas Vater Nabil und Zeyna, die beide vor dem Krieg in Beirut geflüchtet sind wie Familienmitglieder.

Hanna und Zeyna teilen das Schicksal, ohne Mutter aufzuwachsen. Hanna wächst bei den Großeltern auf. Ihre Mutter ist bei einem Verkehrsunfall gestorben, der Vater unbekannt. Zeynas Mutter ist durch einen Bombenanschlag in ihrem Haus gestorben. Während Hanna eher zurückhaltend ist, ist Zeyna immer vorne dabei. Trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere, ist Zeyna für Hanna wie eine Schwester.

Dann ist da noch Chen mit türkischer Abstammung. Für Zeyna und Hanna war er immer der Fels in der Brandung. Er hat vermittelt, wenn sich die beiden gestritten haben. Aber auch an ihm geht der Zwist zwischen den Freundinnen nicht spurlos vorbei.

Mit der Zeit und beeinflusst von äußeren Umständen treten die Unterschiede zwischen den Freunden deutlich hervor.
Nach den Morden in Mölln 1992 ziehen die Ereignisse um 9/11 endgültig einen Riss durch die Freundschaft. Cem und seine Eltern, die einen Laden besitzen, Zeyna und Nabil, der Taxi fährt spüren die Folgen am eigenen Leib. Für Hanna bleibt vordergründig alles beim Alten.

Während Cem dageblieben ist, reist Zeyna als Erwachsene mit ihrer Kamera in der Welt umher, immer auf der Suche nach Fotomotiven für ihre Reportagen.

Nabil vermutet, dass Zeyna ihre verlorene Heimat im Festhalten verschiedener Orte der Welt auf Fotos sucht. Und Hanna ist auf der Suche nach Zeyna. Nach Jahren zieht Hanna wieder zurück in die Wohnung ihrer Großeltern. Man spürt die depressive Grundstimmung, die die vom Kohleabbau geprägte Stadt für Hanna hat. Hannas Einsamkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Sie erinnert sich an den Tod ihrer Großmutter Felizia, an den ihres Großvaters Theo, ihre früh verstorbene Mutter und dann das Verschwinden von Zeyna.

Im Wechsel zwischen vergangener Kindheit und Gegenwart erzählt der Roman von Wahlfamilie, Familie und Freundschaft, aber auch Einsamkeit, Suche nach Verlorenem und Sprachlosigkeit.
Ohne es explizit zu erwähnen, spielt die Gegenwart in der Zeit der Pandemie. Umso verständlicher die Einsamkeit, die manche in dieser Zeit begleitete, die Trennungen, die Stille, die einige nur schwer ertragen konnten.

Den Grund von Zeynas Verschwinden kann man nur erahnen, aber nicht wirklich aufklären. Auch was Hanna in ihrer Einsamkeit umtreibt, lässt sich nur raten. Die Autorin überlässt es den Leser:innen darüber nachzudenken. Das macht den Roman auch so interessant, weil er keine Lösungen oder Erklärungen vorgibt, sondern offene Wege.
Der QR-Code mit den Musiktiteln, die die Freunde in ihrem Leben begleitet hat, ist eine besondere Beigabe im Roman.

Die Geschichte entwickelt einen Sog, wenn man selbst in den Neunzigern und Nullerjahren aufgewachsen ist und die damaligen Ereignisse einem begleiteten: Rassismus, Mölln 1992, 9/11.

Der Roman zeigt auf, wie frühe Verluste Menschen zu Suchenden machen. Suchenden nach Antworten, nach Heimat, nach Familie, nach Zugehörigkeit, nach Verstanden werden.
Eine wundervolle, dicht geschriebene, packende und melancholische Geschichte mit herzerwärmender, poetischer Sprache. Eins der Bücher, die dauerhaft in meinem Bücherregal einziehen werden.