Der alte Mann und das Mädchen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
buecherfan.wit Avatar

Von

Im Roman “Ich & Monsieur Roger “ der Franko-Kanadierin Marie-Renée Lavoie geht es um die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem kleinen Mädchen und einem 80jährigen Mann, der ins Nachbarhaus einzieht. Hélène ist acht Jahre als, behauptet aber zehn zu sein und lässt sich Joe nennen. Jeden Nachmittag sieht sie eine Folge der Zeichentrickserie “Lady Oscar” im Fernsehen. Die Serie spielt im 18. Jahrhundert vor der Französischen Revolution. Oscar ist in Wirklichkeit eine junge Frau, wunderschön und mutig und deshalb Vorbild für die kleine Hélène. Das Mädchen trägt frühmorgens Zeitungen aus, später - mit 13 - kellnert sie in einem Bingosaal. Hélène leidet darunter, ihre Eltern nicht vor allen Widrigkeiten des Lebens beschützen zu können. Sie liebt ihre Mutter und unterstützt sie heimlich finanziell, obwohl sie sich gegenüber ihren Kindern hart und streng gibt. Der Vater leidet unter seinem verhassten Lehrerberuf und erträgt das Leben nur mit täglichem Alkoholkonsum. Hélène liebt auch die jüngeren Schwestern Margot und die kleine Catherine, kommt aber nicht so gut mit der abweisenden älteren Jeanne zurecht, die voller Hass und Verachtung gegenüber ihren Mitmenschen ist und sich auch häufig sehr abfällig über die romantische Ader der jüngeren Schwester äußert. Im Grunde beneidet Hélène Jeanne um ihre Härte. Sie möchte genau so ein Mann sein und ist doch nur ein kleines Mädchen mit einem weichen Herz (S. 187). Hélène hilft dennoch auch Jeanne selbstlos, als es darauf ankommt und bekommt später viel dafür zurück.

Die beiden Hauptpersonen, die sensible Hélène und der ständig unflätig schimpfende alte Mann, kommen sich näher, ohne sich irgendeine Gefühlsduselei zu gestatten oder vom flapsigen Umgangston zu lassen. Der alte Roger passt auf das kleine Mädchen auf und beschützt es im entscheidenden Augenblick vor großer Gefahr.

Marie-Renée Lavoie schildert in ihrem Debütroman einfühlsam die Lebensumstände der beteiligten Personen und vor allem die ungewöhnliche Freundschaft der Protagonisten. Sie vermeidet Kitsch und Sentimentalität und berührt den Leser durch ihre sensible Darstellung. Sehr gut gefallen mir die Exkurse in die romantische Welt der Zeichentrickserie, die für das Mädchen bis zum Schluss der wichtigste Bezugspunkt bleibt. Ich habe das Buch sehr gern gelesen und empfehle es Lesern, die dafür ein Gespür haben.