Der Traum von Lady Oscar

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regenprinz Avatar

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Das Buch war ein bisschen anders, als ich es nach der Leseprobe erwartet hatte, dennoch hat es mir sehr gut gefallen. Nun, da ich die Figur der kleinen Hélène von Beginn an kennenlernen durfte, wird klar, dass ihr Alltag mehr alltäglich als dramatisch ist und sie sich gerade deshalb mit Begeisterung in Tagträumen verliert - besonders Lady Oscar, die einer japanischen Zeichentrickserie entstammt, ist so etwas wie ihr heimliches Idol. Ihr will sie gern nacheifern, deshalb nennt sie sich Joe, behauptet älter zu sein, als sie ist, und bemüht sich, tough und mutig zu sein.
Es macht Spaß, dieses unglaublich scharfsichtige Mädchen bei seinen Streifzügen durchs Viertel zu begleiten. Hélène kommentiert alles sehr direkt und schonungslos und ist daher dem neuen, stets fluchenden Nachbarn Monsieur Roger bestens gewachsen. Wie diese beiden einander näherkommen hat gerade trotz ihrer ruppigen Art etwas Rührendes - denn im Grunde sind sie nichts Anderes als ein ziemlich verlorenes kleines Mädchen und ein einsamer alter Mann ...
Die Handlung ist fließend, dass die Geschichte in den 80-er Jahren spielt, wäre mir kaum aufgefallen, wenn es nicht an einer Stelle konkret erwähnt worden wäre. Hélènes Familie, die Nachbarn, die sich abends auf sämtlichen Balkonen versammeln, Papillon, der Ladenbesitzer, Bedienung Cinthia oder Krankenwagenfahrer Jim - immer hat man ein klares Bild vor Augen, so treffend sind sie alle skizziert. Und nein, leicht hat Hélène es nicht in diesem Umfeld, mit ihrer "Fertig aus!"-Mutter, dem trinkenden Vater und ihren drei Schwestern, aber sie kämpft tapfer und trotzig dagegen an ...
Mit am gelungensten fand ich die Dialoge mit Catherine, der kleinsten Schwester, die Hélène auch Mottchen nennt - sie sind knapp, lustig und vor allem sehr liebevoll. Sehr schön fand ich auch die Szene, als Hélène der verwirrten "Maria Magdalena" einen Kaffee spendiert und damit eine Art stille Revolte im Viertel auslöst. Überhaupt gibt es so viele kleine Details, die dieses Buch zu etwas Besonderem machen - gerade auch, weil alles so unaufdringlich und in locker-leichtem Ton präsentiert wird, der manchmal zwar passend ins Flapsige umschlägt, dann jedoch wieder fast poetisch wird. Mir fällt wirklich nichts Vergleichbares dazu ein. (Im Klappentext wird zwar "Die Eleganz des Igels" erwähnt, aber da mir das gar nicht gefallen hat, sehe ich hier absolut keine Ähnlichkeiten :-) )
Fazit: Ein außergewöhnlich schönes Buch, das ich mit großem Vergnügen gelesen habe!