Eine besondere Freundschaft

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botte05 Avatar

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„Hélène ist klein, zart, acht Jahre alt, nennt sich Joe und behauptet, zehn zu sein, damit sie den Job als Zeitungsausträgerin bekommt. Umgeben von drei Schwestern, einem Vater, der das Leben nur als melancholisch friedlicher Trinker erträgt, und einer Mutter, die sich mit drakonischer Strenge panzert, ist Joe manchmal etwas einsam, ganz wie Roger, der plötzlich im Garten des Nachbarhauses steht und flucht. Roger ist 80, ein begnadeter Grantler, dessen Flüche mit jeder Flasche Bier phantastischer werden. Beide, die gescheite Joe und der nörgelnde Roger, haben einen sehr präzisen Blick auf die Welt und schenken einander nichts.“ – Zitat Klappentext.

Joe träumt sich gerne weg in die Welt von Oscar, der Heldin ihrer liebsten Zeichentrickserie, welche als Mann getarnt Hauptmann von Marie-Antoinettes Leibgarde ist, immer wieder neue Heldentaten vollbringt und das Elend ihrer Zeit zu bezwingen sucht. So wünscht sie sich für ihr Leben auch einen Teil des Elends und möchte als Junge ihren Beitrag zur Besserung der Welt beitragen. Ein wenig älter geschummelt, ergattert sie den begehrten Job als Zeitungsausträgerin und ist fortan allmorgendlich in aller Frühe auf den Straßen unterwegs. Eines Tages kehrt sie nach Hause zurück und trifft auf den neuen Nachbarn, welcher sich als Monsieur Roger vorstellt und eine erste Kostprobe seines herzhaften Sprachrepertoires gibt. Roger wird zum Freund und Helfer der ganzen Familie von Joe, sogar der ganzen Nachbarschaft und ist – stets fluchend und den groben Klotz herauskehrend – gerne für alle da. Und auch wenn Joe es sich verbittet, begleitet und beschirmt er sie im Verborgenen, wie ein Schutzengel.

Marie-Renée Lavoie lässt mich ca. drei Jahre an Hélènes täglichem Leben teilhaben. Die Umstände und Ereignisse zwingen sie, früh erwachsen zu werden sowie zu lernen, dass eine kleine Lüge gnädiger sein kann, als die nackte Wahrheit. Auch die Gegebenheiten der Natur kann sie – genau wie Oscar – nicht außer Kraft setzen und sie wird letztendlich ihre Identität als Mädchen annehmen, sich in ihrer Welt behaupten und sich der Fürsorge ihrer Umgebung anvertrauen.

„Ich & Monsieur Roger“ ist ein gelungenes Buch über eine äußerst ungewöhnliche Freundschaft mit einem Altersunterschied von 72 Jahren. Zwischen einem doch sehr empfindsamen Mädchen, welches „ihren Mann steht“ und einem grobschlächtigen Haudegen, die sich langsam annähern, sich öffnen und denen an der gegenseitigen Gesellschaft mehr liegt, als jemals laut ausgesprochen wird. Eine Freundschaft, die ungeschriebenen Gesetzen unterliegt, damit jeder sein „Gesicht wahren“ kann. Und doch wird manches Geheimnis fast mit ins Grab genommen.

Rezension: Marie-Renée Lavoie, Ich & Monsieur Roger, Verlag Hanser Berlin, Literatur, gebundene Ausgabe, 256 Seiten, 17,90 €, Erscheinungsdatum: 29.07.2013