Eine warmherzige Heldin

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timphilipp Avatar

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„Ich hatte riesige Lust zu leben.“ – Mit diesen Worten aus dem Munde der Protagonistin Hélène endet dieses gelungene Buch. Ihre Lebenslust ist typisch für Hélène. Schon als Achtjährige gibt sie sich für zehn aus, um einen Job als Zeitungsausträgerin zu bekommen, dessen Lohn als Unterstützung der Familie gedacht ist. Das setzt sie später mit anderen Jobs fort. Sie ist ihrem Alter immer einen Schritt voraus. Hélène gefällt es, für andere zu sorgen. In Anlehnung an die Figur eines Hauptmannes in ihrer Lieblingsfernsehserie betrachtet sie sich als Jungen und versucht, die Welt mit Heldentaten zu retten. Eine starke Persönlichkeit ist sie allemal. Ganz im Gegensatz zu ihr steht der andere Protagonist, Monsieur Roger. Er ist ein neu zugezogener Nachbar, alt, ewig fluchend, Trinker, einsam, kennt sich mit Hausmitteln aus, wartet auf den Tod. Als er Hélène eines Tages auf ihrer Zeitungstour vor einer Vergewaltigung bewahrt, beginnt zwischen ihnen eine ungleiche Freundschaft. Indem Hélène ihm Hemingways Roman „Der alte Mann und das Meer“ nahebringt, der berühmten Geschichte um das Ringen des Menschen mit der Natur, macht sie ihm klar, dass es für ihn noch eine Aufgabe im Leben gibt. Für meine Begriffe hätte allerdings diese Freundschaft stärker herausgearbeitet werden können; immerhin ist sie doch buchtitelgebend. Auch viele der anderen Romanfiguren sind so ganz anders als die von Kampfgeist besessene Hélène, insbesondere ihr alkoholkranker, an Depressionen leidender Vater, der an seinem Beruf als Lehrer zugrunde geht.

Die Autorin lässt die ganze Geschichte von der kleinen Hélène in der Ich-Form erzählen und gestaltet dies als Rückblick Hélènes auf ihre Kindheit Anfang der 80er Jahre. Sprachlich erscheint das vielleicht etwas unglaubwürdig, denn ein Kind in dem Alter ist niemals so klug und redet nicht so erwachsen wie Hélène. Andererseits passt das schon gut zu unserer Protagonistin, die die Lebensansichten eines Erwachsenen hat. Deshalb verwundern die vielen Fremdworte auch nicht weiter. Hélène vertritt Ansichten, die zum Nachdenken und Hinterfragen anregen, insbesondere zum Tod, der immer wieder ganz selbstverständlich thematisiert wird. Hélènes große Klappe und ihre Großherzigkeit machen es dem Leser leicht, ihr seine volle Sympathie zu geben.

Da es zudem nicht an humorigen Textstellen fehlt – z.B. schauen die von Nachbarn wegen Lärmbelästigung herbeigerufenen Polizisten letztendlich gemeinsam mit Hélènes Vater bei Bier ein Eishockeyspiel im Fernsehen -, ist das Buch ein ganz tolles Leseerlebnis, das ich nur weiter empfehlen kann.