Ida

‚Er zweifle nicht daran, dass sie einen Zweck im Auge habe [...].'

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sabatayn76 Avatar

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‚Er zweifle nicht daran, dass sie einen Zweck im Auge habe, den sie durch ihre Krankheit zu erreichen hoffe.‘ (CD 6, Track 10)

Die 58-jährige Ida Adler, geborene Bauer, hat ihre Heimatstadt Wien vor über zwei Jahren verlassen und erreicht im Jahre 1941 New York City, von wo aus sie weiterreist nach Chicago, um bei ihrem Sohn und seiner Frau unterzukommen. Sie ist eine nörgelnde, taktlose, anstrengende Frau, die an keinem ein gutes Haar lässt, doch durch Rückblenden erfährt der Leser bald, weshalb Ida Adler so verbittert ist, was sie in ihrem Leben erfahren und erleiden musste.

Der Leser taucht im weiteren Verlauf des Buches immer tiefer in die Biografie Ida Adlers ein, hört von der schwierigen Familiengeschichte, vom Leben mit eigenen Krankheiten und kranken Familienmitgliedern sowie von den Veränderungen in Österreich und Europa im Zuge des immer weiter erstarkenden Nationalsozialismus. Zentral im Roman ist zudem die Behandlung Ida Adlers durch Sigmund Freud, dessen Fallgeschichte ‚Dora‘ berühmt geworden ist, in der er Ida Adlers Krankengeschichte anonymisiert darlegte.

Sigmund Freud und ich sind keine Freunde. Das waren wir noch nie, und mein Psychologie-Studium mit Schwerpunkt Klinische Psychologie hat nicht gerade geholfen, meinen negativen Eindruck von Freuds unwissenschaftlichen Behandlungsmethoden zu revidieren. Und ‚Ida‘ von Katharina Adler, der Urenkelin der im Buch vorgestellten Ida Adler, hilft schon gar nicht, denn die Autorin gewährt dem Leser/Hörer hier tiefe Einblicke ins Leben von Ida Adler und in die Psychoanalyse Freuds, die meiner Meinung nach den letzten Funken an Befürwortung der Psychoanalyse beim Leser/Hörer auslöschen können und sollten.

Katharina Adler legt in ihrem Debüt dar, wie familiäre und historische Begebenheiten einen Menschen prägen, welche Macht die Suggestionen Freuds auf Ida und ihr Leben hatten, wie leicht es ist, Schwächeren (teils abstruse) Dinge einzureden, und welche Stärke Ida bewiesen hat, als sie die Behandlung bei Freud abbrach und ihm keine Macht über ihr Leben gab. All diese Entwicklungen sorgen dafür, dass man der gealterten Ida gegenüber empathisch und vergebend ist, dass man ihre Beweggründe und ihre Handlungen besser verstehen kann und dass man nicht zuletzt wütend auf diejenigen Menschen wird, die ihre Macht ohne Skrupel missbrauchen.

Mir hat das Hörbuch über weite Strecken ausgesprochen gut gefallen, obwohl Ida anfangs so unsympathisch wirkt und mir die Sprecherin initial nicht gut gefallen hat. Gelungen fand ich die Passagen mit Freud und die Schilderungen des familiären Hintergrunds. Weniger gut gefallen haben mir die geschichtlichen und politischen Einblicke, obwohl ich mich schon intensiv mit dem Dritten Reich befasst habe und mich sehr für das Thema interessiere.

Ich hatte vor allem im letzten Drittel des Hörbuchs das Gefühl, dass Katharina Adler in ihrem Buch zu viele Themen angeschnitten hat, dass ihr Roman zu viel wollte, dies aber nicht erfüllen konnte. Mir ist bewusst, dass es um eine Schilderung von Ida Adlers Leben geht und deshalb alle wichtigen Aspekte angesprochen werden mussten, aber ich hätte mir an manchen Stellen straffere Schilderungen und an anderen eine intensivere Beschäftigung mit der Thematik gewünscht.

Mich hat das Buch stellenweise sehr betroffen und wütend gemacht, auch wenn mir die Psychoanalyse von Freud und seine Methoden auch vor der Lektüre geläufig waren. Trotzdem ist es etwas anderes, ob man den ‚Fall Dora‘ in der Theorie kennt oder ob man diesen lebendigen, authentischen Roman liest und hautnah dabei ist, wie Ida Adler von Freud ‚therapiert‘ wurde. Kritisieren kann ich nur das letzte Drittel des Romans, das mich nicht mehr fesseln konnte und das mein ansonsten sehr positives Gesamturteil nach unten korrigiert hat.