Einblick in die labile Psyche eines Fan-Girls

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Lust auf einen Einblick in die instabile, labile Psyche eines Fan-Girls in Japan? Lust auf das Eintauchen in ein Phänomen der japanischen Pop-Kultur? Dann empfehle ich den Roman „Idol in Flammen“ von Rin Usami. Ein Buch, das in Japan zu einem großen Bestseller avancierte. Die Autorin selbst ist noch erstaunlich jung, 1999 geboren. Sie lebt heute in Tokio und hat bereits zwei wichtige Literaturpreise gewonnen.

Und das Thema könnte aktueller nicht sein (Stichwort: Rammstein). In dem Buch wird eine zentrale Frage in den Blick genommen: Wie positioniert sich die Fanszene zu einer Musikgruppe, wenn der Sänger mit einem schweren Vorwurf konfrontiert wird. Was für eine erstaunliche Parallele!

Die Hauptfigur Akari ist so besessen von ihrem Idol Masaki, dass sie alles, was er sagt, transkribiert und in Ordnern abheftet. CDs, DVDs und Fotobände kauft sie gleich in dreifacher Ausführung. Und Fernsehprogramme über ihn zeichnet sie auf. Auf einem Blog veröffentlicht sie Betrachtungen zu ihm. Seine Handlungen und Aussagen werden bis ins kleinste Detail analysiert. Akari unterscheidet verschiedene Arten von Fans: „Es gibt so viele Arten, Fan zu sein, wie es Menschen gibt. Manche Fans bejahen religiös alles, was ihr Idol tut, andere meinen, ein echter Fan müsse auch Grenzen ziehen. Es gibt Fans, die in ihr Idol verliebt sind, aber kein Interesse an seiner Arbeit als Künstler haben, und Fans, die sich zwar keine Beziehung wünschen, aber trotzdem aktiv auf alle Posts reagieren. Dann gibt es die, die sich nur für die Musik interessieren und denen Skandale egal sind, und die, die aufs Geldausgeben für das eigene Idol fixiert sind, wobei anderen der Austausch in der Fangemeinde am wichtigsten ist.“ Was für eine scharfsinnige, differenzierte Darstellung!

Und auch die Gedanken von Masaki sind interessant. Was treibt ihn an, Musik zu machen? (vgl. S. 22: „Vielleicht hoffe ich, dass mich irgendwer da draußen, auch wenn es nur eine einzige Person ist, durchschaut und versteht. Sonst würde ich mir das alles nicht geben, dieses Leben in der Öffentlichkeit, meine ich“). Akari entwirft ein idealtypisches Bild von ihm, es entsteht eine Projektion ihrer eigenen Wünsche und Fantasien. Sie glaubt ihn zu durchschauen und zu verstehen. Sie ist mit ihren Gedanken so sehr bei ihrem Idol, dass sie die schulischen Pflichten vernachlässigt. Trotz des Skandals bleibt sie Masaki treu und hält zu ihm. Die Musik von Masaki erlebt Akari sehr intensiv: „Es fühlt sich an, als würde ich Masakis Gesang mit den Ohren aufnehmen und aus meinem eigenen Mund entweichen lassen. Seine Stimme und seine Augen legen sich über meine Stimme und meine Augen“ (S. 34).

Auch erhalten wir einen Einblick in den Blog von Akari und in das Treiben rund um den Blog herum (z.B. Kommentare und Austausch mit anderen Fans). Das Ausleben des Fan-Daseins ist für Akari das wichtigste („Aber eins weiß ich absolut sicher: Masakis Fan zu sein ist das Zentrum meines Lebens, die eine Konstante. Mein Idol ist meine Körpermitte, meine Wirbelsäule“). Was für ein Eingeständnis! Scheinbar versucht die Protagonistin ihre eigene innere Leere zu füllen. Man merkt, dass es um die Psyche von Akari nicht gut bestellt ist. Sie hat Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, scheint eine Essstörung zu entwickeln. Leistungsabfall in der Schule macht sich bemerkbar. Eine Abwärtsspirale beginnt. Akari entwickelt ein zunehmend stärker werdendes negatives Selbstbild. Sie wird so sehr von Masaki und den Skandal um ihn vereinnahmt, dass sie von ihrer Umwelt nicht viel mitbekommt.

Weitere Symptome, die sich bei der Protagonistin zeigen: Antriebslosigkeit und Traurigkeit. Sie leidet ganz offensichtlich unter eine Depression. Und ihr familiäres Umfeld reagiert wenig sensibel und empathisch, setzt sie sogar noch unter Druck, eine Arbeit zu finden. Doch trotz dieses überaus labilen psychischen Zustands steigert sie sich immer weiter in die Begeisterung um Masaki hinein („Ich bin nicht ich, wenn ich nicht Masakis Fan bin. Ein Leben ohne ihn ist nur noch ein Warten auf den Tod“, S. 112). Und außer den bewegenden Einblick in die fragile Psyche, die nach meinem Empfinden sehr treffend und feinfühlig gestaltet wurde, lernt man beiläufig auch noch etwas über die japanische Musikszene und Pop-Kultur. Wer sich dafür interessiert, der sollte im Internet vor allem die Begriffe „Idol-Kultur“, „Idol“ und „Japan“ genauer recherchieren.

Bleibt abschließend noch eine Bemerkung zur Rezeption dieses Werks. „Idol in Flammen“ erhielt im Feuilleton bisher noch keine große Beachtung, wenn ich der Zusammenfassung auf perlentaucher.de Glauben schenken darf. Dort konnte ich bisher nur die Rezension von Miriam Zeh (Deutschlandfunk Kultur) entdecken (Stand: 03.07.2022), der ich aber in vielen Punkten nicht zustimmen kann. So ist für mich z.B. unklar, warum die Rezensentin dem Buch einen didaktischen Impetus zuschreibt. Für mich war kein erhobener Zeigefinger erkennbar, auch empfand ich den Inhalt des Buchs nicht als belehrend. Und macht das Ende des Romans nicht deutlich, dass die Obsessivität von Akari gar nicht so unerschütterlich zu sein scheint? Und noch eine letzte Bemerkung: Ist Akari nicht schon allein aufgrund ihrer Erkrankung eine rätselhafte Figur? So stellt sich doch z.B. die Frage, ob die Depression evtl. Ursache oder Folge des betriebenen Fankults ist. Oder ist die Erkrankung weder Ursache noch Folge für das obsessive Fan-Dasein? Ist das Fan-Dasein vielleicht mehr eine Begleiterscheinung der Erkrankung? Ist es vielleicht der einzige kleine Bereich im Leben, der Akari noch Freude bereitet? Wie schafft es Akari, einseitig so viel Energie für ihre Leidenschaft aufzubringen und andere Dinge dafür so zu vernachlässigen? Passt das zu einer depressiv erkrankten Person? Ich bin kein Psychologe und kann das nicht beantworten, aber es gibt doch viele Rätsel auf. Eine These: Kann Akari womöglich ihre Freiheit, Kreativität und Erfolgserlebnisse nur im Fankult ausleben? Sicher ist für mich nur, dass man zahlreiche Belege im Text findet, die darauf hindeuten, dass Akari unter einer Depression leidet. Und diese Diagnose ist implizit im Text zu finden, man muss sie herauslesen. Ist das nicht rätselhaft genug in Bezug auf diese Figur?

Fazit: Ich hoffe auch sehr, dass ich mit meiner Rezension deutlich machen konnte, dass es sich nicht um ein oberflächliches Werk handelt, wie es in vielen anderen Rezensionen behauptet wird. Das ist in meinen Augen definitiv nicht der Fall! Im Gegenteil: In diesem schmalen Büchlein steckt einfach unglaublich viel. 5 Sterne von mir! Das Werk ist nicht nur in interkultureller Hinsicht interessant, sondern auch in psychologischer.