Wenn dein Leben plötzlich das einer anderen ist – intensiv, klug, erschütternd

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tanjawa85 Avatar

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Schon die ersten Seiten von Im Leben nebenan ziehen einen tief hinein in eine Geschichte, die unter die Haut geht. Anne Sauer schreibt direkt, ehrlich und mit emotionaler Wucht – über Verlust, Nähe, Angst und das fragile Konstrukt von Identität.

Die Leseprobe beginnt mit einem Moment tiefster Intimität und Verletzlichkeit: einem unbemerkten, stillen Schwangerschaftsverlust. In präziser, eindringlicher Sprache schildert die Autorin, was oft nicht gesagt wird – das Gefühl des Scheiterns, der Leere, das Schweigen danach. Man spürt Tonis Schmerz, ihre Sprachlosigkeit und das zähe Ringen um ein „Weiter“.

Was folgt, ist ein scheinbarer Realitätsbruch: Toni, nun Antonia genannt, wacht in einem Leben auf, das nicht ihres ist – verheiratet, mit einem Kind, in einem Heim, das sie nicht kennt, aber doch erkennt. Die Art, wie Anne Sauer diese Verschiebung der Wirklichkeit beschreibt, ist grandios: psychologisch fein, atmosphärisch dicht, mit einer Mischung aus surrealer Verstörung und ganz bodenständiger Alltagsbeobachtung.

Die Wechsel zwischen Toni und Antonia, zwischen Vorher und Jetzt, zwischen Beziehung, Wunsch, Angst und Erinnerungen, schaffen eine tiefgründige Geschichte über das Frausein – jenseits von Rollenbildern. Es geht um Erwartungen – von anderen und an sich selbst. Um Entscheidungen und darum, wie sich ein Leben anfühlt, das vielleicht einmal möglich war. Oder immer noch ist?

Einfühlsam, klug und sprachlich auf den Punkt geschrieben – diese Leseprobe lässt nicht los. Sie fragt nicht nach einfachen Antworten, sondern lässt Raum für Ambivalenz. Und genau das macht sie so besonders.