Anne Sauer legt den Finger in die Wunden gesellschaftlicher Rollenzuschreibungen

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"Frausein ist immer zu viel von allem, was weißt du schon davon, wie viel ich in mir rumtrage und ertrage." (S. 129)

Haben wir uns nicht alle schon einmal gefragt: Was wäre gewesen, wenn ...? Szenarien durchgespielt, rückblickend gedacht, dass es doch gut ist, wie es gekommen ist oder bereut, die eine Entscheidung getroffen oder nicht getroffen zu haben. In Anne Sauers Debütroman "Im Leben nebenan" wird genau dieses Gedankenspiel zur zentralen Erzählidee. Zwei Leben, die unterschiedlicher nicht sein könnten, gelebt von ein und derselben Person. Toni oder Antonia - je nachdem, in welchem Leben die Lesenden sich gerade befinden. Eben noch zerrissen von dem Wunsch, mit ihrem Freund Jakob eine Familie zu gründen, und der Erkenntnis, dass sich dieser Wunsch wohl nicht erfüllen wird, erwacht sie plötzlich in einem cremefarbenen Hochglanzleben. Verheiratet mit ihrer ersten großen Liebe. Mutter eines Babys, das sie sich so sehr gewünscht hatte - bloß mit einem anderen Mann, in einem anderen Leben.

Durch die Augen der jungen Frau blicken wir auf Zumutungen und Widersprüche weiblicher Lebensentwürfe. Wir lesen von dem, was wir gewinnen, obwohl uns etwas fehlt. Von dem, was uns fehlt, obwohl wir scheinbar alles haben. Und davon, wie zerbrechlich Wünsche werden, wenn sie an der Realität zerschellen. Ob gewollte oder ungeplante Mutterschaft, unerfüllter Kinderwunsch oder bewusste Entscheidung gegen Kinder – allen Szenarien ist eines gemeinsam: Überforderung und Erwartungsdruck. Die junge Protagonistin scheint nicht mehr ihr eigenes Leben zu leben, sondern wird getrieben von den Erwartungen anderer. Ihr eigenes Ich rückt in den Hintergrund – egal, ob mit oder ohne Kind. "Wenn ich sage, ich kann keine Kinder bekommen, dann haben immer alle Mitleid. Gespräch beendet. Wenn eine Frau sagt, sie will einfach nicht, und zwar nie, also wirklich nie, dann muss sie sich erklären. Als wäre das alles, was uns definiert, die einzige Entscheidung, die wir im Leben treffen müssen." (S. 195)

Anne Sauer legt den Finger in die Wunden gesellschaftlicher Rollenzuschreibungen. Sie schreibt über Mutterschaft, Selbstbestimmung und das Frausein in all seinen Facetten - und über das Schweigen, das so oft darüber liegt. Mach kein Theater, heißt es. Alles ganz natürlich. Also: pssst! Über allem schwebt der sogenannte Mutterinstinkt, von dem wir überwältigt werden sollen und stattdessen aber überfordert, wenn er sich eben nicht ganz natürlich einschaltet. "Was braucht es, um ein Kind zu pflegen, es nicht kaputtgehen zu lassen? Wieviel kann sie falsch machen, jetzt schon?, fragt sich Antonia." (S. 138) Windelberge, Milchpulver-Straßen, Ratgeberfluten - die Protagonistin irrt durch ein kleines, übervolles Universum, tastet sich blind voran. Jede Bewegung des Kindes, jeder Laut - alles scheint nach sofortiger Reaktion zu verlangen.

Kaum etwas krempelt ein Leben so sehr um wie ein Kind oder der Wunsch nach einem. Es ist ein Paradox unserer Gesellschaft: Erst pumpen wir uns mit Hormonen voll, um nicht schwanger zu werden und wenn wir's dann wollen, aber nicht werden, gibt's die nächste Dröhnung.

Der Roman beschreibt beide Szenarien inklusive emotionaler Erschöpfung mit feinem Gespür. Es ist ein Buch für die, die Kinder lieben und für die, die Kinder ätzend finden. Für die, die schon immer Kinder wollten und für die, die sich bewusst dagegen entschieden haben. Für die, deren Kinderwunsch erfüllt wurde und für die, die dran zerbrechen. Und es ist ein Buch für alle, die glauben, es sei harmlos, einfach mal so nach dem Kinderwunsch zu fragen. Denn manchmal ist das, was wie Small Talk klingt, ein Tritt in ein offenes Herz.