Klar erzählen, groß fühlen

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Was wäre, wenn? Wenn sich unser Leben an einem inneren Scheideweg aufspalten könnte – in zwei Richtungen, zwei Entscheidungen, zwei Ichs? In ihrem Debüt »Im Leben nebenan« wagt Anne Sauer genau dieses kluge, aufwühlende und emotionale Gedankenexperiment.

Antonia erwacht eines Morgens in einem fremden Haus – mit einem Baby im Arm und einem Mann, der ihr sagt, er sei ihr Ehemann. Adam, ihre Jugendliebe. Doch sie erinnert sich an nichts: »Dieses Baby gehört mir nicht.« (S. 11)

Toni dagegen lebt in der Stadt, steht fest im Berufsleben, hadert mit einem unerfüllten Kinderwunsch. Mit Partner Jakob stellt sie sich der Frage, ob und wie ein Kind in ihr Leben passt – und kämpft sich durch Diagnosen, Hoffnungen und Enttäuschungen.

Zwei Leben. Zwei Möglichkeiten. In wechselnden Kapiteln erzählt Anne Sauer die Geschichte einer Frau in zwei Versionen. Der Stil ist klar, introspektiv, stellenweise lakonisch – Gedanken blitzen auf, ungefiltert und nah. So wird Toni/Antonia greifbar, verletzlich, authentisch. Der Perspektivwechsel entfaltet Sogkraft – ich flog nur so durch die Kapitel.

Was bleibt vom Ich, wenn ein Kind kommt? Was wird aus Liebe, Freundschaft, Leidenschaft, wenn sich alles um ein anderes Leben dreht? Und was, wenn der Kinderwunsch zur Zerreißprobe wird – von Zweifeln durchzogen oder am Ende ganz verworfen?

Anne Sauer stellt keine Thesen auf. Sie urteilt nicht. Sie erzählt, sie fragt. Ehrlich, mutig, ohne Pathos. Beide Lebensentwürfe haben ihren Schmerz und ihr Glück – und beide ihre Berechtigung. Genau das macht diesen Roman so stark und stimmig.

Ein wichtiges Buch – vielstimmig, weiblich, wahrhaftig.