Wie unterschiedlich hätte dein Leben verlaufen können?

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dierotefuchsin Avatar

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„Im Leben nebenan“ von Anne Sauer wirft viele Fragen auf. Nicht nur bei der Protagonistin, die sich plötzlich in einer alternativen Realität wiederfindet, in der sie mit Jugendfreund, der nun ihr Mann ist und Baby noch immer in ihrem Heimatort lebt, sondern auch bei mir selbst: Warum ist sie da? Wie ist sie dort gelandet? Und vor allem: Wie würde man selbst fühlen, handeln, mit allem umgehen, wenn einem das passiert?
Während sich Antonia diesen Fragen stellt, dreht sich parallel ihr Leben als Toni in der Großstadt mit Freund und Job weiter um die große Entscheidung: Wollen wir Kinder? Kann ich auch ohne Kinder glücklich werden? Bin ich ohne eventuell sogar glücklicher?
Dabei bleibt das Buch bis auf den Bruch in Toni und Antonia absolut realistisch. Beide Leben entwickeln sich parallel, und ich habe mich mehr als einmal dabei ertappt zu überlegen: Was ist nun besser? Schlechter? Um schließlich (für mich) zu dem Schluss zu kommen, dass beides eine Berechtigung hat und weder gut noch schlecht ist.
Der Schreibstil ist wundervoll klar und dadurch kraftvoll. Gefühle werden nicht nur beschrieben, sondern spürbar gemacht. Das erzeugt eine gewisse Sogwirkung beim Hören/Lesen.

Die Sprecherin transportiert beide Welten großartig und lässt dennoch erkennen, dass es sich um dieselbe Person handelt. Wie sie das so überzeugend schafft, ist mir ein Rätsel, aber es funktioniert hervorragend.
Was mich allerdings gestört hat: Antonia nimmt die neue Realität recht schnell hin. Ja, zu Beginn sucht sie noch nach ihrem alten Leben und der Start ist für sie alles andere als einfach, aber irgendwann akzeptiert sie die Situation dann doch fast widerstandslos. Natürlich stellt sich die Frage: Was will man sonst auch machen? Doch für meinen Geschmack gab es zu wenige Erklärungen.
Und genau da bin ich gespalten: Einerseits ist es gut so, die Geschichte zeigt, wie unterschiedlich Tonis Leben hätte verlaufen können, ohne sich in Begründungen zu verlieren. Andererseits wirkt es dadurch für mich ein wenig zu oberflächlich, um ein Highlight zu werden. Aber das ist völlig in Ordnung. Ein Buch muss nicht perfekt sein, um zum Nachdenken anzuregen.

3,5 Sterne