1923 - ein normales Jahr in Deutschland? Und was denkt man in 99 Jahren über 2022?

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alsterschwan Avatar

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Christian Bommarius hat sein Buch „Im Rausch des Aufruhrs – Deutschland 1923“ genannt, der Titel gefällt mir (genau wie das Cover!) und ist gut gewählt: Deutschland war in (fast) allen Bereichen im Aufruhr: die Hyperinflation, Besetzung des Ruhrgebiets, vollkommen gegensätzliche politische Ansätze, unterschiedliche militärische Ziele, mittendrin eine schwach agierende Regierung – um hier nur eine kleine Auswahl der Missstände zu nennen...Auch kulturell war häufig einiges „im Rausch des Aufruhrs“ (wobei Rausch hier manchmal wörtlich zu nehmen ist) und alles prallt mit der deutschen Gründlichkeit immer wieder aufeinander...
Ganz einfach ist aber der Einstieg in das Buch nicht: der Autor verlangt uns Leser*innen jede Menge an Konzentration ab, aber erst mal „eingelesen“ wird es etwas einfacher - aber vielleicht wären einige Namen / Ereignisse weniger im wahrsten Sinne des Wortes „mehr“ gewesen, aber das ist Jammern auf hohem Niveau...
Denn mir hat das Buch gut gefallen, ich fand es ausgesprochen interessant und faszinierend, wobei ich den Vorteil hatte, dass ich sehr gern historische Romane und Kriminalromane aus dieser Zeit lese / gelesen habe, deren Autor*innen anscheinend auch sehr gründlich recherchiert haben (z.B. Melanie Metzenthin, Susanne Goga, Thomas Ziebula, Alex Beer, Gregor Müller und ganz viele mehr...), denn vieles, was sie „nebenbei“ beschrieben haben, wird bei Christian Bommarius als knallharte Fakten genannt!
Der Autor bietet uns ein wahres Kaleidoskop der Ereignisse: den jeweiligen Monaten stellt er zwei Fotos voran (sozusagen die „Fotos des Monats“) und fasst auf einer Seite die allerwichtigsten Ereignisse zusammen, dabei macht er keinen Unterschied, ob politischer oder kultureller Natur, auch die Rubrik „Klatsch und Tratsch“ und Mode findet durchaus Erwähnung. Diese Zusammenfassung endet immer mit dem aktuellen Brotpreis: (Januar: 250 Mark, Juli; 3.465 Mark, Dezember:399 000 000 000 Mark).
Hyperinflation und Besetzung des Ruhrgebiets und „Rangeleien“ in der Regierung ziehen sich wie ein roter Faden durch das Jahr, aber mir war z.B. nicht bekannt, wie stark der Antisemitismus bereits 1923 in „deutschen Köpfen“ verankert war und dem Rechtsextremismus (und damit nicht nur Adolf Hitler) schon „Tür und Tor“ geöffnet waren... Einige Menschen habe es erkannt, andere (wollten oder konnten es) nicht: z.B. erklärt Egon Erwin Kisch seinen ratlosen Leser*innen: „Die schwarze Reichswehr gibt es nicht, aber es gibt sie eigentlich doch, nämlich illegal, aber doch wiederum legal, denn Reichskanzler Cuno hat sie zur Organisation des Ruhrwiderstandes gegründet, und weil man sie jetzt abbauen will, sind sie national und antirepublikanisch und haben sich mit jungen Zivilisten verstärkt, um die Reichswehr zu entwaffnen und der Republik zu zeigen, dass die monarchistischen Zivilisten die besseren Soldaten sind, weshalb die Republik den antirepublikanischen Soldaten weiter den Sold bezahlen soll.“ (S. 218) Verstanden? Ich nicht – aber so ging es wahrscheinlich vielen Bürgern der damaligen Zeit... Hitler ist da - wie Bommarius schreibt: „gedanklich übersichtlicher“: „Juden können wir nur dulden, wenn sie uns als Gäste nicht schaden würden. Sie schaden aber, und deshalb können wir sie nicht dulden.“ (S. 101) Aber Christian Bommarius vergisst auch uns Frauen (und unsere Bedürfnisse) nicht. „In Wien und Berlin trägt die Dame in diesem Frühjahr Altägyptisch.“ (S. 87)
Für mich hat dieses Buch eine Art Grundlagencharakter, denn es folgt noch ein ausführliches Kapitel „Was weiter geschah“ (auch sehr lesenswert) und ein Anhang mit Anmerkungen. Bei zukünftigen Büchern werde ich erst mal bei Christian Bommarius nachschlagen...
Aus diesem Grund kann ich dieses Buch mit guten Gewissen (und meinen kleinen Einschränkungen) unbedingt weiterempfehlen und danke dem Autor für seine wahrhaft mühevollen, intensiven und sicher zeitraubenden Recherchen!