Die Katastrophe kommt noch, der Hammer schwebt schon

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Im Rausch des Aufruhrs.
Das neue Sachbuch von Christian Bommarius,
erschienen im März 2022 in der dtv Verlagsgesellschaft, München

Eine Rezension von Rajo Winter

„Aufruhr“ ist der passende Ausdruck, mit dem der Journalist und Schriftsteller Christian Bommarius seine Leser:innen durch das komplette Jahr 1923 mit wechselnden Akteuren führt. Sachlich und mitreißend ist es, ihn dabei zu begleiten. Und als Lektüre für Hintergründe nur zu empfehlen.

Aufgebaut ist das Buch nicht thematisch, sondern gegliedert in Abschnitte von Januar bis Dezember, jeweils mit ansprechenden Schwarzweiß-Fotos. Geschrieben ist das Ganze überaus gut. Keine historische Abhandlung im herkömmlichen Sinn ist es, Vorgänge passieren und daran orientiert sich alles. Anziehende Überschriften wie „Der hysterische Backfisch“ oder „Kisch besucht Maxim Gorki“ oder „Dora findet für Franz ein Zimmer“ machen neugierig.

Wie auch immer, man fühlt sich zeitversetzt. Und alte Bekannte, die in Erscheinung treten, sind einem geläufig, wirken aber auch erstaunlich frisch, im anderen Licht betrachtet. Beim Lesen werden einem die Beziehungen und Zusammenhänge deutlich, die man so nicht kannte.

Zur Sache: Wir schreiben das Jahr 1923, ein Jahr der Not, ohne Frage. Aber auch Mode, Kunst, Revolution und Widerstand bestimmen das Leben. Schriftsteller, Bildende Künstler und Musiker sind wie selbstverständlich in die Geschehnisse involviert.

Beim Lesen wird einem sofort klar, was sich damals alles zusammenbraute. Während das Brot immer teurer wird, bewegen Umsturzversuche die Gemüter. Leichen pflastern so manchen Weg. Fast täglich gibt es Neues zu berichten. Einige der Todesopfer 1923 gehen aufs Konto von Serienmörder Fritz Haarmann. Aber das nur nebenbei.

Geprägt von zahlreichen Auseinandersetzungen in der Politik wie im Überlebenskampf der bürgerlichen Schichten endet dieses wilde Jahr. Die Politiker bekommen noch einmal die Kurve. Vorerst. Das dicke Ende bahnt sich bereits an.

Journalist und Schriftsteller Bommarius schildert die Ereignisse, Ursachen und Zustände sowie die agierenden Personen auf 281 Seiten überaus spannend. „Im Rausch des Aufruhrs" reichen oftmals die Momentaufnahmen, um Leser: innen vor Augen zu führen, wie sich das Leben damals abspielte. Auch anderswo in Europa.

Der Autor präsentiert das ganze Jahr in einer recht aufgelockerten Form, ohne roten Faden. Das animiert je nach Lust und Laune, mal diesen, mal jenen Monat aufzuschlagen, also vor und zurück zu blättern oder einfach hängen zu bleiben bei einer Überschrift wie „Ein Straßenbahnticket für 100 000 Mark“.
Unterstützt wird diese Art des „freien Lesens“ noch durch den Anhang „Was weiter geschah“ und den vielen Anmerkungen sowie einem hilfreichen Personenregister.

Fazit:
Schon nach einigen Seiten erkennen Leser:innen, wie fundiert die Inhalte sind. Es lassen sich viele neue Eindrücke sammeln und Fragen nach warum? wieso? weshalb? für ein geschichtliches Verständnis der 1920er Jahre klären. Der mitreißende, aber seriöse Schreibstil trägt wesentlich dazu bei, die erzählten Dinge auch gut in Erinnerung zu behalten. Das Buch informiert umfassend und erfüllt fast die Aufgabe eines Nachschlagewerks für die kleinen Details und vielsagenden Netzwerke damaliger Zeiten.