Visionen und Revolutionen

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amara5 Avatar

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Ein Sohn übernimmt die florierende Firma des tonangebenden Vaters im Ausland – da sind Konflikte und Reibereien vorprogrammiert. Noch explosiver wird es, wenn es eine Schuhfabrik in Südchina ist, in denen Wanderarbeiter ausgebeutet werden, um die Maschinerie des großen Gewinns laufen zu lassen. So geschieht es in Spencer Wise’ Debütroman „Im Reich der Schuhe“ – der junge Bostoner Jude Alex Cohen unterzeichnet die Nachfolge für seinen Vater, stolpert aber von einem Gewissenskonflikt in den nächsten, je tiefer er in die Strukturen und prekären Arbeitsbedingungen der Fabrik blickt. Er verliebt sich Hals über Kopf in Ivy, eine kluge Arbeiterin in der Fabrik, die aber mysteriös in geheime revolutionäre Pläne verwickelt zu sein scheint. Durch ihre Augen nimmt Alex Chinas Kultur und Politik ganz anders wahr, lernt viel über sich, über das Land, aber auch über Globalisierung und Kapitalismus dazu. Als eine Arbeiterin aus Verzweiflung Selbstmord begeht, muss sich Alex zwischen Loyalität und Moral entscheiden: Gibt es visionäre, neue Wege, um Arbeiter in China mehr zu schützen und den Output trotzdem gewinnträchtig zu halten? Wird er seinen Vater in Bredouille bringen müssen? Und wie weit geht er für Ivy, die vor Jahren das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens miterlebt hat?

Spencer Wise hat ausgiebig sowie präzise recherchiert und bringt eigene Erfahrungen aus einer Schuhmacher-Familie mit – das merkt man seinem gesellschaftskritischen Debüt beim Lesen an: Es braucht ein bisschen Durchhaltevermögen, bis die episch, nüchtern und detailreich erzählte Geschichte spannend wird und sich feinfühlig entfaltet – in Dialogen und auch in der Weiterentwicklung des Protagonisten. Dafür kommt Chinas Kultur und mordernes Leben in allen Facetten szenisch und atmosphärisch zum Vorschein und auch die sehr deprimierenden Aspekte von Ausbeute, Korruption und Unterdrückung werden nicht ausgespart. Es ist eine lehrreiche, hochwertig und schwarzhumorig geschriebene Geschichte, die länger nachhallt und über das nächste Paar Schuhe und dessen Produktion in Billiglöhnländern nachdenken lässt.

Es ist aber auch eine bissig formulierte und eindringliche Geschichte über Mut, Idealismus, Visionen zur Veränderung, Liebe und einem Vater-Sohn-Konflikt, das Aufeinanderprallen von Tradition und Moderne, sozialer Widerstand sowie das Ausbrechen aus Konventionen. Und bei allem schwingt ab der Hälfte diese subtil eingebaute Spannung mit, wer Ivy wirklich ist. Sehr gute und eloquente Unterhaltung mit ernsten Themen, die durch den scharfen Witz des Autors und einem optimistisch gestimmten Ende aufgelockert werden.

„Selbst wenn ich eine Rede hielt, würden die Arbeiter weiter leiden. Das war der globale Kapitalismus. Man konnte die Maschine nicht einfach abstellen. Sie lief seit hunderten von Jahren. Eine Notbremse gab es nicht.“ S. 301