Viele bemerkenswerte Denkanstöße

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rflieder Avatar

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Ein interessantes, schlaues Sachbuch. Der Autor Neil de Grasse Tyson, hochrangiger US-amerikanischer Astrophysiker, aktiv in vielen Wissenschaftsinstitutionen der USA, im TV und den sozialen Medien, laut Klappentext eine der einflussreichsten Persönlichkeiten unserer Zeit (was vielleicht etwas übertrieben ist), versucht in einem Vorwort und 10 Kapiteln zu allen möglichen Themen mit Konfliktpotenzial Ursachen für die Konflikte aufzuzeigen, sie zu hinterfragen und aufzuzeigen, wie sie von den exakten („harten“) Wissenschaften in der Historie und in der Zukunft gelöst werden können.
Der Blick eines Astronauten aus dem Universum auf die Erde dient nur als nette Metapher. Es geht eher um den Einfluss wissenschaftlich gewonnener objektiver Wahrheiten auf das menschliche Miteinander und die Entstehung subjektiver Wahrheiten. Die Ausführungen zur Wahrscheinlichkeitsrechnung, zu exponentiellem Wachstum des Umfangs wissenschaftlicher Ergebnisse, zum autonomen Fahren, zum Rassismus (um nur ein paar Beispiele zu nennen) sind insbesondere durch viele verblüffende (z.T. humorvolle) und auch für den vorgebildeten Laien verständliche Fakten (alle durch Quellen belegt) und Gedankenexperimente nachvollziehbar, auch wenn ein mathematisch naturwissenschaftliches Studium für das Verständnis hilfreich sein kann. De Grasse Tyson gibt viele Denkanstöße, die dem Leser seine Vorurteile bewusst machen. Vieles ist auf die USA bezogen, aber durchaus auf Europa übertragbar. Da die weiße amerikanische Geschichte noch vergleichsweise jung ist und besonders Europäer die Geschichte der Wissenschaften beeinflussten, kann der Autor gar nicht an Europa vorbei gehen. Ihm unterlaufen kaum Fehler (z.B. dass seit dem Fall der Mauer 1989 in Europa Frieden herrscht (Seite 58). Der Konflikt in Ex-Jugoslawien wird übersehen. Der Krieg in der Ukraine begann dagegen nach dem Druck der Originalausgabe des Buchs).
Der Autor neigt gelegentlich zur bewussten Übertreibung bzw. zur Provokation. So vergleicht er die (große) Anzahl der abgetriebenen Föten in den USA mit der weit größeren Anzahl „natürlich“ durch Fehlgeburten verlorenen Föten. Oder fragt, wer eher behindert sei, ein körperlich unversehrter Mensch ohne mathematische Kenntnisse im Bereich der Vektorräume oder ein Mensch im Rollstuhl, der sich mit Vektorräumen auskennt.
De Grasse Tysons Ausführungen zu den „weichen“ Wissenschaften erzeugen beim Leser neue (berechtigte?) Vorurteile, besonders was die Rechtswissenschaften betrifft.

Insgesamt ein sehr lesenswertes Buch von einem interessanten Autor, der Probleme analysiert und von seinem zugegeben sehr rationalen wissenschaftlichen Standpunkt aus mit viel Optimismus in die Zukunft blickt, dass die exakten Wissenschaften die Probleme der Menschheit lösen können.