Im Totengarten

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marionhh Avatar

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Alice Quentin, eine junge Psychologin, hat in ihrer Kindheit von ihrem Vater viel Gewalt erfahren und wurde von ihrer Mutter in eine Besenkammer eingesperrt – seitdem leidet sie an Platzangst. Ihr Bruder Will, hochintelligenter Börsenhändler, ist drogenabhängig, schizophren und obdachlos, ihre Mutter Meisterin der Verdrängung. Dauerhafte Beziehungen kann Alice nicht aufbauen. Eines Tages wird sie von DCI Burns zur Beurteilung von Morris Cley gerufen, der im Gefängnis einsitzt, weil er eine junge Prostituierte ermordet haben soll. Sie stellt ihm ein positives Gutachten aus, und er wird entlassen.

Kurz darauf findet sie die Leiche einer jungen Frau auf Crossbones Yards, einem historischen Friedhof, auf dem seit dem Mittelalter namenlose Prostituierte auf ungeweihter Erde begraben wurden. Dies ist der Auftakt einer unheimlichen Mordserie, in die Alice mehr und mehr verstrickt wird. Alles scheint die Handschrift eines massenmordenden Pärchens zu sein, von welchem nur noch die weibliche Hälfte lebt und einsitzt und bei der anscheinend alle Fäden zusammenlaufen. Gibt es einen Nachahmer?

Alice findet noch mehr Leichen oder wird zu Opfern gerufen, wird bedroht, erhält unheimliche Briefe mit Androhung von Schmerzen, sie wird von DCI Burns und dessen Mitarbeiter Ben Alvarez zu Befragungen mitgenommen und lernt ehemalige Opfer und Mittäter kennen. Ihr Ex-Freund Sean, ein Chirurg, dessen gekränktes Ego es nicht erträgt verlassen zu werden, macht ihr ebenfalls Angst. Gleichzeitig quartiert sich ihre beste Freundin Lola samt schwedischem Liebhaber bei ihr ein. Dann wird der Zustand ihres labilen Bruders immer schlimmer, und die Polizei findet Spuren der Opfer in seinem Kleinbus.

Schließlich eskaliert die Situation, und sie wird unter permanentem Polizeischutz gestellt, während sich gleichzeitig die Gefühle für Alvarez Bahn brechen. Alice erhält Akteneinsicht in den alten Fall und verbeißt sich darin, beginnt zu ermitteln. Als Lola verschwindet, weiß sie, dass der Mörder ihr ganz nah ist.

Ein durchaus spannender und solider Thriller, der meines Erachtens zwischendurch jedoch auch die eine oder andere Länge aufweist. Dass Alice und Will die gequälten Kinder aus dem Prolog sind, wird recht schnell gelöst, dass der Mörder ein Einzeltäter ist und aus Alices engstem Umfeld stammt, wird ebenfalls rasch deutlich. Trotzdem ist das Ende einigermaßen überraschend, und der Spannungsbogen nimmt besonders auf den letzten 70, 80 Seiten deutlich zu. Alice ist ein interessanter und vielschichtiger Charakter, aufgrund ihrer schrecklichen Kindheit, ihrer Klaustrophobie und ihren unterdrückten Gefühlen eigentlich eher eine Antiheldin. Glück und Freiheit empfindet sie nur beim Laufen. Man leidet mit ihr mit und vermutet nicht, dass sie heil aus der Sache herauskommt, was der Story immens an Würze verleiht.

Trotz ihrer mangelnden Fähigkeit, Gefühle zu zeigen, ist sie ständig bemüht, anderen zu helfen, teilweise bis zu Aufopferung, und manche ihrer Handlungen kann man ganz eindeutig nicht nachvollziehen. Man hat auch den Eindruck, als sei sie nur von Egoisten umgeben: allen voran ihre Mutter, ihr kranker Bruder, aber auch ihre Freundin Lola und nicht zuletzt DCI Burns, der sie immer wieder überredet, etwas für ihn zu tun, und sie so immer tiefer in den Fall verstrickt und schlussendlich auch in Gefahr bringt.

Fazit: Ein auf weite Strecken spannender Thriller mit einer interessanten (Anti-)Heldin. Deren Figur als Kriminalpsychologin ist allerdings meiner Meinung nach noch ausbaubar – bislang analysiert sie eher keine Kriminellen, sondern therapiert psychisch Kranke und stellt ansonsten Gutachten aus. Ein richtiges Hineinversetzen in die kranke Psyche des Täters habe ich bislang vermisst. Für Einsteiger gut geeignet, da keine extrem fiesen und ekelerregenden Details Preis gegeben werden. Es trieft nicht vor Blut, die Spannung wird subtiler aufgebaut und lebt hauptsächlich von der Opferrolle, in die Alice gedrängt wird. Trotzdem ein absolut lesenswertes Buch, das neugierig auf weitere Fälle mit der Protagonistin macht.