Von der Zweckgemeinschaft zur Wahlfamilie

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Der Nachkriegsroman „In den Scherben das Licht“ von Carmen Korn erzählt von (unfreiwilligen) Neuanfängen und Veränderungen des Leben unterschiedlicher Generationen, aber auch von Freundschaft, Hoffnung und Liebe.
Erst einmal muss ich eines zugeben: So gern ich Carmen Korns Romane auch lese, für die Cover konnte ich mich noch nie begeistern. „In den Scherben das Licht“ bildet mit dem patellfarbenen Cover auf dem ein tanzendes Paar aus der Vogelperspektive zu sehen ist leider keine Ausnahme.
Der Roman erzählt vom Leben im Wandel in der Nachkriegszeit zwischen 1946 und 1955. Im Mittelpunkt stehen dabei die ehemalige Schauspielerin Friede und die beiden Kinder/jungen Erwachsenen Gert und Gisela, die in deren Keller Obdach finden. Zudem sind auch noch Friedes ehemalige Liebhaber Palutke und Viktor Franke Teil des Geschehens, sowie Marta mit der Friede eine eigenwillige Freundschaft verbindet. Je weiter die Zeit voranrückt, desto lebhafter geht zu im Leben der drei Protagonisten, die in einer bunt gemischten Gemeinschaft nicht nur eine neue Familie finden.
Carmen Korn verfolgt auch in ihrem jüngsten Roman ihren unverkennbaren Schreibstil, der von vielen kurzen, mitunter auch unvollständigen Sätzen geprägt ist und dann und wann von einigen komplexeren Satzstrukturen unterbrochen wird. Ein Schreibstil der sich in meinen Augen wunderbar lesen lässt und immer eine kurzweilige, beinahe spannende Wirkung auf mich hat. Kleinere und größere Zeitsprünge komprimieren das Geschehen. Wobei der Roman keine stringente Handlung, sondern vielmehr den Lebensverlauf seiner Figuren über gut 9 Jahre mit allen Drehung und Wendungen begleitet. Manche Momente hätte ich mir etwas konkreter erzählt gewünscht. Spannend bleibt das Buch aber schon allein aufgrund der vielen unvorhersehbaren Aufs und Abs, der kleinen und großen Hoffnungen und Ziele, der vielen Zweifel und Enttäuschungen und der unzähligen kleinen Glücksmomente. Mit dem vergleichsweise offenen Ende bleibt auch noch ein wenig Raum für die eigene Fantasie, denn das Leben der Figuren geht weiter.
Leben heißt Veränderung und so durchlaufen die meisten Figuren, insbesondere die Hauptcharaktere eine deutliche Entwicklung. Oftmals gewährt Carmen Korn auch Einblicke in die Gefühlswelt, macht Hoffnungen, Schuldgefühle und (Selbst-)Zweifel der einzelnen Charaktere greifbar. Eine Ausnahme in puncto Entwicklung bildet dabei Friedes selbstgerechte Freundin Marta. Marta ist sich stets selbst die Nächste. Gisela beschreibt es im Roman sehr passend mit den Worten, dass Marta ihr Leben zu klein findet. Sie ist unzufrieden, fühlt sich verkannt und ungerecht behandelt und sieht sich damit absolut im Recht andere – insbesondere Friede – gnadenlos auszunutzen. Friedes ehemaliger Liebhaber Palutke erscheint sehr egozentrisch. Dass er Friede trotz unlauterer Mittel nie für sich allein gewinnen konnte, ist ihm ein Stachel im Fleisch. Mit zunehmendem Alter und Einsamkeit zeigt er sich oft ein wenig sentimental. Sein jüngerer Widersacher und Theaterkritiker Franke hat als Jude zwar mehrere Jahre im Ghetto Litzmannstadt überlebt, doch die seelischen Wunden heilen nur langsam und die Narben bleiben. Sein Weg zurück zu einer lebenswerten Existenz ist beschwerlich. Unterstützung findet er dabei unter anderem in Nast, einem Philosophie-Professor. Er ist wie ein guter Geist an vielen Stellen ein Bindeglied zwischen den Figuren und gibt zunächst Gisela und später auch Gert die Chance ihre Bildung und damit ihre Zukunftschancen zu verbessern. Friedes „Familienmitglieder“ Lulu und Robert tauchen erst später in der Handlung auf. Lulu hat es durch seine Homosexualität nicht nur in der Gesellschaft, sondern allem voran bei Vater und Brüdern schwer. Robert tritt stets gutmütig und weitgehend besonnen und ausgeglichen in Erscheinung. Auf ihn ist Verlass. Gisela und Gert haben im Krieg ihre Familien verloren und finden in Friedes Keller Obdach. Während die jüngere Gisela spürbar Bildung genossen hat und ebenso robust wie zielstrebig ihre Pläne verfolgt, wirkt Gert sehr gefühlsbetont und eher nachdenklich. Beide wachsen Friede im Verlauf der Jahre wie eigene Kinder ans Herz. Friede ist wohl diejenige, die sich am meisten entwickelt. Unmittelbar vor dem Krieg wusste sie ihr durchaus ausschweifendes Leben zu genießen, war dem Luxus und den Männern, die sie verwöhnten zugeneigt. Doch die entbehrungsreiche Nachkriegszeit und die Beziehung zu Gert und Gisela verändern ihre Weltanschauung und ihre Werte. Nach und nach übernimmt Friede Verantwortung und sorgt für andere statt sich selbst umsorgen zu lassen. Ihr Glück findet sie nicht länger vorrangig im Luxus, sondern viel mehr im Gemeinschaftsgefühl.
Insgesamt ein stark geschriebener Roman, der den Wandel im Leben vieler interessanter Charaktere in der Nachkriegszeit begleitet, vor allem in Sachen Freundschaft und Zusammenhalt – sehr lesenswert.