Das Verschwinden einer Lehrerin

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Das wunderschöne Cover des Romans hat mich in der Suhrkamp Vorschau sofort angesprochen. Es zeigt, passend zum Titel, einen Wald, wie ich ihn mir in Norditalien vorstelle.
Und der Wald spielt eine große Rolle in dem Debütroman der italienischen Autorin Maddalena Vaglio Tanet. Sie ist selbst in dem piemontesischen Ort Biella geboren, der auch der Schauplatz ihres Romans ist.
Tanet erzählt eine Geschichte, die auf wahren Vorkommnissen und Personen Anfang der 70er Jahre basiert und die in ihrer eigenen Familie überliefert wurden. Das weiß ich aus den Tanets Anmerkungen, die dem Roman nachgestellt sind.

Silvia ist eine alleinstehende Lehrerin Anfang 40, die im kleinen Örtchen Biella lebt und in der örtlichen Schule mit Leidenschaft für ihre Schüler*innen unterrichtet. Vor allem Kinder, denen sie anmerkt, dass sie es in ihren Familien schwer haben, versucht sie besonders zu unterstützen. So wie die junge Giovanna, die öfter mit blauen Flecken zur Schule kommt und mit Eintritt in die Pubertät zunehmend Probleme in der Schule und zu Hause bekommt. Silvia, die selbst als Waisenkind einige Zeit im Internat verbracht hat, kennt die Folgen von fehlender Elternliebe und möchte Giovanna unterstützen.

Doch eigentlich beginnt der Roman damit, dass Silvia morgens einfach in den Wald geht und dort verschwindet statt in der Schule zu unterrichten. Nachfolgend erfahre ich aus dritter Hand, dass ihr Schützling Giovanna am Vorabend aus dem Fenster ihres Zimmers in den Fluss gestürzt ist und dort ertrunken ist. Es wird vermutet, dass sie sich umgebracht hat.
Außerdem wird vermutet, dass Silvia davon morgens in der Zeitung gelesen hat und deshalb verschwunden ist. Ihre Verwandten und Freund*innen machen sich Sorgen und starten Suchaktionen.
Ich als Leser*in habe einen guten Blick aufs Geschehen, denn ich bin dabei, als Giovanna verzweifelt aufs Fensterbrett steigt und Silvia, gepeinigt von Schuldgefühlen und Erinnerungen an ihre Vergangenheit, im Wald mit der Natur verschmelzen will.

“Silvia erträgt es nicht, in der Welt zu sein und zu wissen, dass es Giovanna nicht mehr gibt.”


Es gibt viele Passagen, die mir gut gefallen, allen voran die Szenen mit Silvia im Wald und später auch in der Interaktion mit dem Jungen Martino.

Einige Passagen haben mir aber weniger gut gefallen und das lag zum großen Teil an meinem Unvermögen den vielen zusätzlichen Erzählsträngen des überaus großzügig bestückten Figurenkabinett noch zu folgen. Hier hätte meiner Meinung nach eine deutliche Reduzierung auf die Kernfiguren Silvia, Giovanna und Martino gut getan, statt dem Auffächern eines kompletten personellen Dorfpanoramas, das wohl zum Teil auf wahren Personen beruht.

Die Geschichte der Lehrerin Silvia, die im Wald verschwindet, hätte für mich auch ohne realem Hintergrund sehr gut funktioniert, denn Tanet ergänzt die bekannten Fakten mit fiktionalen Gedanken, Figuren und Details.

Gut gefallen hat mir der Schluss, der mir genügend Raum für eine gedankliche Fortführung der Geschichte lässt und final nicht alles erklären will und kann und einen gelungenen Schlusspunkt setzt.
Maddalena Vaglio Tanet hat in ihrem ersten Roman bereits eine ganz eigene Erzählstimme, die ich gerne gelesen habe, auch wenn sich der Roman sich nicht zu meinen italienischen Highlights gesellen wird.